Nemesis 06 - Morgengrauen
Geschmack auf meiner Zunge, der von einer großen Menge Betäubungsmittel kündete, die man in meinen Blutkreislauf injiziert hatte. Ich korrigierte meinen Gedanken, vermutlich als Junkie unter einer Brücke zu enden, falls ich jemals wieder lebend nach Hause zurückkehren sollte: Ich wäre mit Sicherheit für den Rest meines Lebens (auch wenn dieses noch deutlich länger andauerte als die drei Tage, die Sänger mir in seiner unendlichen Güte zugestanden hatte) immun gegen jegliche Art von Drogen.
»Ich habe schon immer gewusst, dass du der Begabteste bist«, sagte Sänger in diesem Moment, als hätte er die ganze Zeit über neben meiner Bahre gestanden und darauf gewartet, seine Worte endlich aussprechen zu können, »nur deine Skrupel und deine falsch verstandene Moral haben dir im Weg gestanden, Frank, im Weg, der zu werden, den ich gesucht hatte.« Sängers schmale Lippen krümmten sich zu einem abstoßenden Lächeln. »Aber was das angeht, hast du ja an dir gearbeitet. Mir ist nur nicht ganz klar, wann sich der Wandel in dir vollzogen hat und was der Auslöser war. Ich habe dich ja all die Jahre beobachten lassen, so wie alle aus deinem Jahrgang. Aber es gab nie Auffälligkeiten in dieser Richtung ... Sicher, du warst sozial gestört, hast es nie lange an einem Ort ausgehalten, kannst keine Nähe ertragen – aber Gewalttätigkeit?« Sänger schüttelte den Kopf. »Bisher hatte ich immer den Eindruck, dass dieser Wesenszug dir völlig fremd ist.«
Ich begriff nicht, was der Professor da redete. Gewalttätig? Ich?! Weil ich Judith vor Carl zu schützen versucht hatte in der Burg? Weil ich in meiner Verzweiflung bereit gewesen war, eine junge Frau als Geisel zu nehmen, der ich jedoch nie und nimmer etwas angetan hätte? Versuchte der Alte, mich zu manipulieren? Und wenn ja – was wollte er damit erreichen?
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte ich.
Sänger legte den Kopf schräg. Deutlich konnte ich jetzt seinen faltigen Hals über seinem weißen Kragen erkennen, der die Vitalität seiner Haltung ebenso wie die pergamentähnlich schimmernde ledrige Haut einer Moorleiche unter sich verschwinden ließ. Sänger war alt, viel zu alt. Er hätte längst tot sein müssen. Der Teufel wusste, welche Chemikalien ihn am Leben erhielten.
Lange sah der Professor mich schweigend an. Dann schüttelte er den Kopf, als könne er nicht glauben, was er da sah. »Du weißt es tatsächlich nicht?«, fragte er ungläubig. »Das ist kein Spielchen. Du bist ... Es gibt da einen zweiten Frank, der sich tief in dir verbirgt und dem der edle Frank Gorresberg, Rächer der Witwen und Waisen, noch nie in seinem Leben begegnet ist.«
Da war wieder dieses Lächeln, das die Lippen des Professors wie eine dünne, mörderische Sichel erscheinen ließ. Er zog ein Handy aus der Tasche seines Kittels und tippte eine Nummer ein.
»Doktor Kranzer? Sänger hier«, sagte er nach einigen Augenblicken. »Könnten Sie mir bitte auf dem Monitor in Zimmer 100 die Aufzeichnung der Überwachungskamera aufspielen? Ich hätte gerne die Szene, in der Doktor Schmidt und Schwester Carla das Zimmer mit dem Defibrillator betreten.« Der Professor nickte kurz und ließ das Handy dann wieder in seiner Tasche verschwinden. »Ich hasse diesen kleinen Dinger«, sagte er kopfschüttelnd, »aber manchmal sind sie ganz nützlich.«
Ich blickte mich suchend im Raum um. Die Taubheit des Elektroschocks wich nur langsam aus meinen Gliedern, aber immerhin konnte ich mich wieder ein bisschen bewegen. Nirgends entdeckte ich eine Kamera.
Sänger schien meine Blicke richtig zu deuten. Mit dem knochigen krummen Zeigefinger seiner linken Hand wies er auf die Lamellen eines Belüftungsschachtes in der gegenüberliegenden Wand.
»Die Kamera ist dort drüben«, erklärte er. »Die Patienten fühlen sich unbefangener, wenn sie sich nicht dauernd beobachtet wissen. Es gibt sogar noch eine zweite Kamera
...« Sänger lächelte wieder. »Man sollte immer noch ein Ass im Ärmel behalten, nicht wahr? Wer weiß, vielleicht überraschst du mich ja noch einmal, Frank. Du kannst aber ruhig wissen, dass fast jeder Winkel hier in der Burg videoüberwacht ist. Es ist schon faszinierend, was die moderne Technik zu leisten imstande ist. Wir haben da oben Kameralinsen, die kaum größer als ein Knopfloch sind.«
Hier in der Burg! Die Worte des Alten trafen mich fast wie ein zweiter Elektroschock. Sollte das heißen, dass ich mich noch immer auf Burg Crailsfelden befand? Das konnte nicht
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