Nemesis 06 - Morgengrauen
wie ich immer gedacht hatte? Sänger hatte sich vorgenommen, eine neue Sorte Mensch zu züchten. Wenn seine Versuche an mir geglückt waren, dann war ich nun kein Mensch mehr.
Vor der Tür war eine Entscheidung gefallen. Es waren die beiden massigen Pfleger, die meinen ersten Fluchtversuch beendet hatten, die dort draußen standen. Ich erkannte sie an ihren Stimmen und dem Geruch ihres Schweißes, vermischt mit dem von Latex, Wäschestärke und Seife.
Nur waren sie dieses Mal nicht mit Elektroschockern bewaffnet. Alles überlagernd beherrschte der scharfe Geruch von Pulver und Blut den Raum, aber ich roch auch Metall und Waffenfett.
Meine ohnmächtige Wut sprengte alle Fesseln. Einer der hünenhaften Pfleger trat durch die Tür. Die Schrotflinte im Anschlag, bewegte er sich ruckartig, um nicht von einem verborgenen Gegner überrascht zu werden. Judiths Blut triefte wie ein roter Vorhang von der Bahre herab.
Gott, wie viel Blut konnte in einem Menschen sein!
Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich die Gedanken des Pflegers spürte. An allem, was der Mann dachte, nahm ich teil.
Er ist hinter dir! Schnell!
Diesen Gedanken hatte ich geformt. Nein, es war der verletzte Junge in mir gewesen, der seine Wut über Judiths Tod nicht beherrschen konnte. Ich...
Der Pfleger fuhr ruckartig herum. Für ihn war sein Kollege jetzt ich, obwohl äußerlich nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen uns bestand. Alles geschah ausschließlich im Kopf. Was auch immer die Augen des Pflegers sahen – die Bilder wurden im Gehirn verarbeitet, und genau dort saß ich und lauerte wie eine bösartige Spinne inmitten des Netzes von Gedanken, um sie mit geschickten Armen zu manipulieren. Mit jedem Herzschlag wurde mir sein fremder Verstand vertrauter. Mein Eingriff war ein minimaler. Nicht ich gab den Befehl, den Finger am Abzug zu krümmen; alles, was ich tat, war, den Pfleger glauben zu lassen, dass nicht sein Kollege hinter ihm stand, sondern jenes Ungeheuer, welches zu töten man ihn geschickt hatte.
Der Schuss hallte von den Wänden wider. Mit einem dumpfen Geräusch fiel etwas Schweres zu Boden. Ich roch Blut. Nicht das von Judith, sondern Feindesblut!
Etwas in mir wollte aufschreien vor Freude. Etwas Wildes, das ich noch nicht zu beherrschen gelernt hatte. Was auch immer dieses Fremde war, mit dem ich meinen Verstand nun teilte, fand Gefallen am Töten – oder zumindest daran, Rache zu nehmen.
Ich kroch unter dem Bett hervor. Wenn ich mich irrte, war ich im nächsten Augenblick tot.
»Kommen Sie, Professor. Ich bringe Sie heraus.« Der Pfleger sprach stockend. Blutspritzer hatten sein Gesicht in eine dämonische Maske verwandelt. Der Leichnam seines Kollegen war grässlich entstellt, der Schrotschuss aus nächster Nähe hatte ihm regelrecht den Leib zerfetzt.
»Es ist gut, dass dieses Ungeheuer endlich erledigt ist«, sagte der Pfleger, während er auf mich zutrat. »Der war doch kein Mensch mehr.« Die Stimme des Mannes wurde immer leiser, während er sprach, so als hätte er Angst, das angebliche Ungeheuer zu neuem Leben zu erwecken, wenn er es laut beim Namen nannte. »Ich habe gehört, was die Ärzte über die letzten Bilder gesagt haben. So etwas darf nicht leben ... Das ist ...« Der Pfleger suchte einen Moment lang nach den richtigen Worten, gab dann aber auf und zuckte nur mit den Schultern.
Ich hatte ein Gefühl, als öffnete sich eine große stachelige Faust in meinem Magen. Was für Bilder meinte der Kerl? Wovon zum Teufel sprach der Fleischberg? Was war es, was die Ärzte zuletzt noch so hatte beunruhigen können, nachdem sie alle wahrscheinlich live und in Farbe dabei gewesen waren, als ich drei Menschen in der Burg ermordet hatte? Ich versuchte, mich auf die Gedanken des Pflegers zu konzentrieren, aber es war, als blickte ich auf eine riesige Wand aus Fernsehmonitoren, bei der jeder Bildschirm ein anderes Programm zeigte. Ich erhaschte einen Blick auf eine zarte dunkelhaarige Frau und zwei kleine Kinder, Bilder einer Landstraße glitten an mir vorüber. Ein Ausflug in die Stadt ... Wie sollte ich mich in diesem Chaos bloß zurechtfinden?
Aber ich traute mich nicht, den Mann nach diesen Bildern zu fragen. Ich wollte nicht riskieren, das Trugbild dadurch zu zerstören, dass ich nach etwas fragte, was der Professor, für den er mich hielt, auf jeden Fall hätte wissen müssen. Wenn ich nur besser wüsste, wozu ich in der Lage war und wozu nicht! Wie weit konnte ich einen Menschen beherrschen?
»Kümmern Sie sich
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