Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
Anblick nicht den üblichen Sprung gemacht. Ein hübsches Mädchen im Rollstuhl. Marek unser Papa ist tod . Jetzt schaute sie mich mit dem gleichen betroffenen Blick an wie alle anderen. Ich war wieder auf der anderen Seite der Glasscheibe.
Ich stand auf und lief über die Wiese zum Waldrand. Dort versuchte ich zu telefonieren, aber die Verbindung brach ab. Ich wählte immer wieder die Nummer, von der die SMS gekommen war, es tutete, und dann war jedes Mal totale Stille im Hörer. Dann kam ich auf die Idee, den Ort zu wechseln. Kaum hatte ich wieder Empfang, klingelte das Telefon. Es war Claudia.
Ich war erleichtert, dass ihre Stimme diesmal halbwegs wiedererkennbar klang.
»Die Beerdigung ist in vier Tagen«, sagte Claudia. »Ich fürchte, ich kann dich vorher nicht abholen. Ich muss jetzt Tamara helfen, sie ist völlig durch den Wind. Du kommst mit dem Zug. Schaffst du das? Oder soll ich Dirk vorbeischicken?«
»Muss ich wirklich?« fragte ich.
»Marek, ich bitte dich. Ich weiß, es ist hart. Ich weiß, du bist mit … neuen Freunden unterwegs. Aber solche Dinge passieren nun mal, wenn sie passieren. Er ist … immerhin dein Vater.«
»Ich hatte schon seit Ewigkeiten keinen richtigen Vater«, sagte ich.
»Wenn du nur wüsstest«, sagte Claudia.
Ich saß auf meinem Koffer unter der Anzeigetafel, auf der rein gar nichts stand. Der Zug zurück nach Berlin sollte in einer halben Stunde gehen. Sie hatten mich alle zum Bahnhof bringen wollen, aber ich hatte abgelehnt. Ich hatte gesagt, dass ich allein sein wollte, das schien ihnen einzuleuchten. Ich wollte auch den Bauern mit seinem Traktor nicht haben. Ich hatte meinen Koffer eigenhändig den asphaltierten Umweg entlanggeschoben, und meine Gedanken hatten im Takt der Räder gerattert.
Sie hatten mich vorher umringt, um mich zu verabschieden, und ich hatte mich rasch auf den Weg gemacht und nicht noch einmal umgedreht. Ich hatte einen Kloß im Hals und konnte nicht sagen, ob es wegen meines Vaters oder wegen Janne oder genereller Rottweiler-Weltschmerz war. Ich hatte das Gefühl, schon mehrere Wochen hier verbracht zu haben, nicht bloß zwei Nächte, von denen die eine furchtbar war und die andere vielleicht die schönste meines Lebens gewesen wäre, wenn ich sie nicht verschlafen hätte. Ich stellte mir vor, wie ich in Berlin wieder zu einem Gruppentreffen ginge, und lachte mich kaputt.
Es krächzte aus dem Lautsprecher, wenig später fuhr die Regionalbahn ein. Ich hievte meinen Koffer hoch. Der Zug war fast leer, und niemand guckte mich an. Ich betastete mein Gesicht, fuhr mit dem Zeigefinger auch unter die Brille, als könnte sich in den letzten Tagen etwas verändert haben. Alles war wie immer. Hätte mein Vater mich noch gesehen, hätte es ihm garantiert ein paar Nächte den Schlaf geraubt. So hatte er zumindest in dieser Hinsicht Glück gehabt.
Claudia hatte mir die Adresse per SMS auf mein Handy geschickt und mit Erläuterungen versehen. Mein Vater hatte in einem Dorf namens Einhausen bei Frankfurt gewohnt, im selben Ort, in dem ich – und er – geboren waren. Nachdem er sein Herz für unser Au-pair-Mädchen entdeckt hatte, ging Claudia mit mir nach Berlin zurück. Mein Vater war ein waschechter Hesse und hatte seine Kanzlei dort, wo seine Familie seit Generationen lebte.
Ich musste in Berlin, Hannover und Frankfurt umsteigen. Die Fahrt zog sich endlos. Das Telefon klebte in meiner Hand. Claudia schickte immer wieder Nachrichten, wo ich gerade sei und wie ich mich fühle. Ich fühlte mich gar nicht.
Ich hatte keine Telefonnummer von Janne dabei. Nicht einmal die vom Guru und auch von niemandem sonst. Vielleicht hatte ich die Liste mit allen Daten irgendwo im Koffer, aber wahrscheinlich nicht. Janne blieb in Marenitz, jetzt hatte Marlon sie für sich, und seltsamerweise machte es mich gerade einmal nicht rasend.
Komischerweise vermisste ich Marlon fast ein bisschen mehr.
Eine ältere Frau in Bahnuniform und mit geschwollenen Füßen schob den Getränkewagen durch den Gang. Schwer geschädigte Venenklappen, dachte ich und bestellte mir einen Kaffee. Sie nahm mein Kleingeld ohne nachzuzählen entgegen und reichte mir einen lauwarmen Pappbecher.
So unversehrt, wie ich vermutet hatte, waren sie alle gar nicht. Ich ließ den Blick über die Hinterköpfe schweifen, die ich von meinem Sitz aus sehen konnte. Manche von ihnen dachten vielleicht, sie wären heil und würden es für immer bleiben. Das hatte ich auch einmal gedacht. Mein Vater
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