Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
ich überhaupt noch sprechen konnte. Meine von Orgelklängen gedämpfte Stimme klang fremd. Er nickte; er sah ja alles selbst. Dann steckte er die Hände in die Hosentaschen und zog mehrere Spielzeugautos und einige schon etwas matschige Schokoriegel heraus. Er parkte die Autos die Krawatte entlang, eins rutschte herunter, Ferdi fummelte im Sarg herum, um es wieder rauszuholen.
»Ferdi, perestan!« Tammy hatte sich aufgerappelt und stand jetzt neben uns. Ich machte einen Schritt zur Seite, um sie zum Kopfende vorzulassen. Sie zitterte so heftig, dass der Boden unter uns zu wackeln schien. Alles zitterte mit ihr. Ich legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie an mich, damit sie etwas weniger zitterte. Sie streckte die Hand aus und berührte die Bartstoppeln im toten Gesicht. Fuhr wieder zurück, erschrocken über die Kälte. Und dann schüttelte sie meinen Arm ab und warf sich auf die Brust meines Vaters.
Sie schluchzte so laut, dass ich befürchtete, irgendwas in ihr könnte kaputtgehen. Ich drehte mich kurz nach hinten. Der Bestatter hatte den Raum verlassen. Ich hörte auch die furchtbare Musik nicht mehr. Meine junge Stiefmutter küsste das Gesicht meines toten Vaters, und in mir regten sich zwei Gefühle, die ich nicht sehr gut kannte. Das eine war Ehrfurcht, die mich so ausfüllte, dass ich kurz vorm Platzen war. Das andere war Neid.
Tammy wurde still und lag mit dem Kopf auf dem Kissen, ihre Wange gegen seine gelehnt. Dann richtete sie sich auf, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und begann, die verrutschte Decke zu richten.
»Hat er Schuhe an?« Ferdi versuchte mit der Beharrlichkeit eines jungen Naturforschers, unter die Decke am Fußende zu schauen.
»Perestan«, sagte Tamara. Ich stellte mir plötzlich vor, dass mein Vater vielleicht deswegen zugedeckt war, weil der Bestatter sich das Ankleiden der unteren Körperhälfte gespart hatte, und zog Ferdi weg von den Füßen.
»Warum hat er die Hände so?« Ferdi ruckelte an den gefalteten Händen.
»So kann er besser schlafen.« Tammys Stimme raschelte zärtlich durch den Raum.
»Glaub ich nicht.« Ferdi versuchte die Hände zu lösen. Und anstatt ihn in gewohnter Manier anzumotzen, machte Tammy plötzlich mit.
»Hilf uns doch«, warf sie mir über die Schulter zu.
»Nein«, sagte ich mit aller Entschlossenheit, die ich noch in mir spürte. Ich hatte Angst, dass sie noch was kaputt machten. Mir war ganz unklar, warum ich plötzlich trotzdem mitmachte. Es war aussichtslos: Die Hände waren unlösbar ineinander verkeilt, hart und kalt, und plötzlich brüllte ich auf. Ich hatte das Gefühl, dass sich ein Finger bewegt hatte.
»Was kreischst du so?« Tammy zog vorsichtig und konzentriert an den Unterarmen. Ferdi half von der anderen Seite.
»Ich glaube, er hat sich bewegt.«
Sie warf den Kopf zurück und lachte. Es hallte durch den ganzen Raum.
»Ferdi, das macht keinen Sinn«, sagte sie. »Wir lassen ihn so. So ist es auch okay.«
Ferdi ließ frustriert die Arme hängen.
Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Zwischendrin war die Tür auf- und wieder zugegangen. Tammy küsste meinen Vater noch ein paar Mal, es schmatzte saftig durch den Raum.
»Ferdi, willst du auch?« fragte sie.
Er nickte, und ich hob ihn hoch. Er berührte die Wange des Toten mit seinen Lippen. Ich ließ ihn wieder herunter. Verdammt, dachte ich, er ist doch erst sechs.
»Und jetzt du.« Tammy stieß mich in den Rücken.
»Ich will nicht«, sagte ich. Ich hatte die Grenze dessen, was für mich möglich war, längst überschritten. Ich hatte nicht vor, mich noch weiter von ihr zu entfernen.
»Du musst.«
»Ich muss hier gar nichts.«
»Danach wirst du dich besser fühlen, versprochen.« Tammys Hand ruhte immer noch zwischen meinen Schulterblättern. Ich spürte die Hitze durch mein T-Shirt. Der Raum war kalt.
Damit sie endlich Ruhe gab, beugte ich mich über den Sarg. Ich hatte nicht vor, meinen Vater zu küssen. Ich hatte Angst davor. Aber meine Nasenspitze berührte seine und fiel nicht ab, und ich rutschte etwas höher und spürte seine Marmorstirn unter meinen Lippen. Ich konnte mich nicht an den letzten Kuss erinnern, den er mir gegeben hatte.
Ich richtete mich mit geschlossenen Augen wieder auf. Unter meinen Augenlidern brannte es.
Tammy gab mir die Sonnenbrille, die in den Sarg gefallen war, als ich mich darübergebeugt hatte. Sie nahm mich an die Hand, an der anderen führte sie Ferdi. In der Tür blieben wir stehen und drehten uns alle
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