Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
drehte den Kopf zum Fenster. Da sie dabei 180 fuhr, machte ich mir etwas Sorgen.
»Schau nach vorn, bevor noch was passiert.«
»Bei dir kann es eh nicht viel schlimmer werden«, sagte sie.
»Kotz dich ruhig aus, macht mir nichts aus.«
Sie wandte mir ihr Gesicht zu. In ihren Augen standen Tränen, und ich kapierte gerade gar nicht, was der Auslöser dafür war. Ihre Mutter reiste an, war das ein Grund zum Weinen?
»Entschuldige«, sagte ich, obwohl jetzt eigentlich sie damit dran war. »Warum ist deine Mutter eigentlich noch nie hier gewesen?«
Tamara sagte nichts.
»Nicht einmal zur Hochzeit?«
»Es war eine kleine Hochzeit«, murmelte sie.
»Warum eigentlich?«
»Weil.«
Ich seufzte. Das Gespräch barg nichts als Fettnäpfchen. Zum ersten Mal dämmerte mir, dass Tammys ferne Angehörige über ihre plötzliche Schwangerschaft vom Vater der Gastfamilie vielleicht gar nicht so beglückt gewesen waren, wie ich es immer unterstellt hatte. Mein Vater und Tammy hatten sofort geheiratet, damit sie nicht zurück in die Ukraine gehen musste. Vielleicht war mein Vater über diese Hetze selbst nicht so glücklich. Vielleicht war er gar nicht rasend verliebt, sondern einfach nur ein anständiger Mann. Vielleicht war alles wirklich ganz anders gewesen, als ich mir immer ausgemalt hatte.
»Ich war zweimal mit Ferdi bei meiner Familie in der Ukraine«, sagte Tammy.
»Weiß sie eigentlich Bescheid, deine Mutter?«
»Worüber? Dass er tot ist? Natürlich, deswegen kommt sie doch.«
»Darüber.« Ich wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht.
»Ach so«, sagte Tammy. »Mach dir keinen Kopf. Die Welt dreht sich nicht um deine zwei Pickel. Sie hat wirklich schon Schlimmeres gesehen.«
Wir warteten am Frankfurter Flughafen unter dem Bildschirm mit den Landezeiten. Mir schmerzte der Kopf, den ich die ganze Zeit in den Nacken gelegt hatte. Tammy hatte sich bei mir eingehakt und ihre Stirn auf meine Schulter gebettet.
»Lass das lieber«, sagte ich.
»Warum?«
»Wegen Pietät und so.«
»Wegen wem?« Sie küsste mich auf die Wange und dann noch mal auf den Hals.
»Du bist Witwe, Tammy.«
»Eben.«
»Also hör auf, mich abzuknutschen.«
»Du bist wie ein Bruder für mich.« Sie küsste mich aufs Ohr, das war ein bisschen laut. »Wie ein Cousin«, korrigierte sie sich. »Ohne dich wäre ich längst durchgedreht.«
Sie redete, als wäre sie betrunken. Es kam mir sogar vor, als stünde sie nicht ganz fest auf ihren Beinen. Ich stützte sie. Ihre Taille war ganz schmal, ich konnte sie mit einem Arm umfassen. Für einen Moment spürte ich, dass sie hinter den Ohren nach Pfingstrosen roch. Dann schob sie mich mit beiden Händen weg und versuchte, aus eigener Kraft Halt zu finden. Ihr Absatz erwischte meinen Fuß, aber ich gab keinen Ton von mir.
»Mama«, rief sie gellend und stolperte davon.
Ich hatte gedacht, dass Tammys Mama wie sie sein würde, lange Beine, lange Haare, nur vielleicht doppelt so alt. Oder, etwas unwahrscheinlicher, eine kleine runde Frau mit langem Mantel und Kopftuch, wie ich sie früher auf den Kiew-Fotostrecken im National Geographic gesehen hatte. Ich hatte am allerwenigsten damit gerechnet, dass Tammys Mutter wie Claudias Kopie aussehen würde, groß, mit zerzaustem kurzen Haar, das nicht blond, aber rot war – Claudia hatte den Farbton vor einigen Jahren auch schon gehabt. Tammys Mama trug eine auffällige Brille und hatte einen großen Mund. Und sie sprach Englisch, und zwar um Längen besser als ich.
»Meine Mutter ist Professorin, Idiot«, zischte Tammy in mein Ohr, während ich den verdächtig großen Koffer hinter mir herzog. Ich hatte versucht, der angereisten Mama Komplimente zu ihren Sprachkenntnissen zu machen.
»Hättest du andeuten können«, zischte ich zurück. »Du siehst ihr gar nicht ähnlich!«
»Gott sei Dank.«
Irgendwie kapierte ich auf einmal, warum Tammy und Claudia sich nicht mehr vertrugen. Ich jedenfalls mochte ihre Mutter. Sie stellte sich als Evgenija vor, die russische Variante von Eugenia, englisch Eugene, und ihre ausländischen Kollegen sagten Jenny zu ihr.
Mir gefiel der Händedruck, der die englischen Sätze begleitete, die ich für Beileidsbekundungen hielt. Mir gefiel ihr Akzent, den ich auch gern gehabt hätte. Mir gefiel die mäßig interessierte Art, mit der sie kurz, mit flüchtiger Aufmerksamkeit, in mein Gesicht geschaut hatte, bevor sie sich ihrer Tochter zuwandte. Und mir gefiel, dass Tammy in ihrer Gesellschaft sich plötzlich
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