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Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)

Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)

Titel: Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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Schaufenster wurde eine Art Erntedank nachgespielt, mit Kastanien, Äpfeln und Maiskolben, beflattert von gelben und roten Ahornblättern, die an fast unsichtbaren Drähten herunterhingen. Ich fragte mich, wie sie wohl demnächst zu Halloween umdekorieren würden.
    Tammys Hand zitterte an meiner Armbeuge, ich ließ Ferdi kurz los und bedeckte ihre Finger mit meiner Hand. Ihr dicker goldener Ehering war angewärmt von der Sonne. Sie blieb stehen, ich also auch. Minuten vergingen.
    Sie zog ihre Hand zurück und ging als Erste durchs Tor.

          Hinter dem Fachwerk verbarg sich ein quadratischer asphaltierter Hof, in dem mehrere Autos parkten, darunter der Leichenwagen. Zwei kindsgroße Engel bewachten den Eingang zu einem niedrigen Flachbau. Daneben wartete der Bestatter.
    »Ich habe alles vorbereitet«, sagte er und hielt Tammys Hand lange in seiner.
    Sie nickte und sah auf die Tür, die er mit einem Schritt zur Seite freigab. Ich starrte sie auch an. Dann drückte ich Ferdis Finger so heftig zusammen, dass er laut »Autsch!« sagte.
    »Gehen Sie gemeinsam hinein?« fragte der Bestatter.
    Nein, wollte ich schreien. Ich will gar nicht hinein, und ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass Ferdi hinein soll. Ich will nicht dafür mitverantwortlich sein, dass der Junge einen weiteren Schaden fürs Leben bekommt. Ich halte nichts von osteuropäischen Sitten, einen Toten abzuknutschen. Lasst mich bitte gehen.
    Aber Tammy blickte mich aus aufgerissenen Augen von schräg unten an.
    »Ich gehe zuerst«, sagte ich.
    »Zusammen«, atmete sie aus.
    Der Bestatter hielt uns die Tür auf. Ferdi quietschte wieder an meiner Hand. Der Geruch schmelzenden Wachses zog uns entgegen. Ich merkte, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten hatte.
    Jetzt standen wir drin. Der Bestatter machte die Tür zu. Ich drehte mich kurz um, er wartete mit gefalteten Händen und gesenktem Blick am Ausgang.
    Ich schaute nach vorn und hätte am liebsten geschrien.
    An der gegenüberliegenden Wand stand ein offener Sarg. Dort schlief ein Mann. Natürlich wusste ich, dass dieser Mann mein Vater war und dass er nicht schlief. Ich versuchte nach vorn zu gehen, aber meine Beine gehorchten mir nicht.
    Es machte Klick hinter meinem Rücken, und leiernde Orgeltöne füllten den Raum. Mein Vater lag im Sarg, und er war tot, toter als tot, er würde nie wieder aufstehen können. Und trotzdem war er genauso, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Wie eine genaue Nachbildung, eine Wachsfigur. Ich hatte es in all den Jahren nicht geschafft, ihn zu vergessen.
    Dafür hatte ich Ferdi vergessen. Er war nicht mehr an meiner Hand. Ich drehte mich um. Er stand neben dem Bestatter und guckte mir entgegen. Tammy war in der Ecke zusammengesackt.
    »Komm, Ferdi«, sagte ich. »Wir gehen wieder raus.«
    Plötzlich stand er an meiner Seite. Ich nahm seine Finger, die warm und verschwitzt waren und vertrauensvoll in meine Hand glitten. Mit ihm zusammen konnte ich mich auf den Füßen halten. Er zog mich unerbittlich nach vorn, und ich konnte nicht anders, als ihm zu folgen. Er stellte sich auf Zehenspitzen und schaute in den Sarg. Dann entzog er mir seine Hand, um die Spitzendecke zu berühren, mit der unser Vater bis zur Taille zugedeckt war. Die Decke verrutschte.
    »Ferdi«, flüsterte ich erschrocken.
    »Was ist das?« Er deutete mit seinem kleinen Zeigefinger auf die Schürfwunde, die unser Vater an der Stirn hatte. Der Finger hing über dem Gesicht in der Luft, dann sank er tiefer und berührte für einen Moment die Haut.
    »Kalt«, sagte Ferdi.
    »Er hat sich wehgetan, aber er spürt es nicht mehr«, murmelte ich. Je länger ich dastand, desto ruhiger wurde ich. Ich wollte nicht mehr schreien und weglaufen. Ich sah auf den Körper meines Vaters herunter. Er hatte einen Anzug an, ein weißes Hemd, eine weiße Krawatte, so war er immer ins Gericht gefahren und hatte dort eine Robe darüber angezogen. Die Krawatte war verrutscht. Ohne wirklich fassen zu können, was ich da gerade tat, streckte ich die Hand aus und rückte sie zurecht.
    Ferdi lief um den Sarg herum. Wieder wuselten seine Finger über dem Gesicht unseres Vaters. Dann bohrte er ihm ohne Vorwarnung den Zeigefinger ins Ohr.
    »Vorsichtig«, zischte ich, aber er ignorierte mich. Er drehte noch ein paar Runden um den Sarg. Seine Hände glitten die Kante entlang.
    »Das ist nur die Hülle, Ferdi.« Ich hatte das dumme Gefühl, schon wieder etwas sagen zu müssen. Nicht für ihn, eher damit ich selbst wusste, dass

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