Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
gekannt, meinen Vater, mein ich«, redete ich hastig weiter, weil sie nichts mehr sagte. »Es ist ein Kaff, in dem ich als Kind gelebt habe. Hier ist alles seltsam. Meine Stiefmutter ist eine blutjunge ukrainische Schlampe, und Claudia dreht langsam durch, und ich auch …«
»Ich würde gern helfen«, sagte Lucy. »Wenigstens babysitten oder so. Ist dein kleiner Bruder süß?«
»Sehr süß.« Ich wurde plötzlich wütend auf sie. Dass sie, die Umstände ausnutzend, versuchte, sich in mein Leben zurückzuschleichen. Dass sie einen schwachen Moment gefunden hatte, in dem mich das Gefühl streifte, irgendwas könnte wieder so werden wie früher. Ich fand es perfide, und wenn mir jemand gesagt hätte, dass sie es nur gut meinte, dann hätte mich das nur noch wütender gemacht.
»Er ist sehr süß, aber du wirst ihn nicht babysitten, Lucy.« Ich hörte förmlich, wie sie von meinem veränderten Tonfall zurückschreckte, weil sie nicht mehr mit solcher Zurückweisung gerechnet hatte, nachdem ich zuerst so vielversprechend umgänglich geklungen hatte, fast so wie früher . Ich spürte, wie ihr Atem sich am anderen Ende der Leitung veränderte. Ich fand, sie hatte es nicht besser verdient.
»Verstehst du nicht, dass ich mich schuldig fühlte«, platzte es aus ihr heraus. »Will das nicht in deinen Kopf, dass ich dabei war? Dass auch für mich nichts mehr so sein wird wie früher?«
»Red keinen Unsinn«, sagte ich müde. Sie hatte mir das in zahlreichen Briefen erläutert und mich damit ganz schön mürbe gemacht. Ich brauchte ihre Schuldgefühle nicht. Ich hatte damals keine Wahl gehabt und hätte auch heute nichts anders machen können. »Ich habe mich nicht etwa deswegen zwischen dich und das Tier gestellt, weil ich so unglaublich edel bin«, sagte ich. »Nenn mich meinetwegen einfach Superheld, aber bedenke dabei, ich bin es nie gewesen. Du verwechselst mich die ganze Zeit mit jemand anderem. Es war erstens ein Reflex, zweitens ein Unfall. Ich hatte die Hosen voll und hab mir später so oft gewünscht, ich hätte es nicht getan, und dann wärest du dran gewesen und nicht ich. Deswegen will ich nicht mit dir sprechen, Lucy. Ich will mich nicht jedes Mal aufs Neue zwischen meinem Gesicht und meiner Ehre entscheiden müssen.«
Ich hörte nicht, dass sie weinte. Aber ich wusste, dass sie es tat, und es ärgerte mich.
»Ich habe dir ein für alle Mal erklärt, dass ich dich nicht mehr sehen will«, sagte ich. »Nie wieder. Es liegt nicht an dir, ich will niemanden sehen. Mich gibt es nicht mehr, gewöhn dich endlich dran. Meine anderen Freunde haben es schließlich auch verstanden. Ruf nicht mehr an und leb wohl.«
Sie legte ohne eine Antwort auf, und ich warf das Telefon gegen die Wand. Es zersprang in zwei Teile, der Akku fiel heraus. Ich schob alles zusammen unters Bett und legte mich wieder unter die Decke. Dann dachte ich wieder an Janne. Mit Janne hätte ich gesprochen, weil sie anders war als Lucy. Sie stammte nicht aus der Welt der Unversehrten. Sie war gezeichnet wie ich. Ihr musste man nichts erklären. Sie wollte ich sprechen, sehen und küssen. Aber sie rief nicht an. Vielleicht versuchte sie es gerade jetzt und konnte mich nicht erreichen. Ich stand wieder auf, setzte das Telefon zusammen und schaltete es ein. Aber es blieb stumm.
»Es gibt einen ukrainischen Leichenschmaus«, sagte Claudia zu mir, als ich wenig später die Treppe herunterkam, leicht torkelnd, als wäre ich betrunken. Ich setzte mich auf die Couch, legte die Beine auf den hässlichen Beistelltisch mit dem doppelten Glasboden und hörte mir das Menü an. Hühnersuppe, Piroggen mit Fisch, irgendeine schleimige Grütze und Wodka ohne Ende.
»Sehr schön«, sagte ich.
»Es ist rührend«, sagte Claudia. »Sie haben schon eine Liste erstellt und fahren gleich zum Einkaufen. Ich dachte, vielleicht möchtest du sie begleiten und beim Tragen helfen.«
»Nichts täte ich lieber«, sagte ich, nahm die Füße vom Tisch, und dann brach es aus mir heraus. »Warum sagst du das, vielleicht möchtest du sie begleiten? Ich habe nicht die geringste Lust, und das weißt du ganz genau. Wenn du mich bittest, wenn du es von mir erwartest und verlangst, dann formulier es auch so. Ich bin diese ganze Schönfärberei leid.«
»Das sind die Schattenseiten des kultivierten Umgangs«, sagte Claudia ungerührt. »Ich hätte zum Beispiel große Lust, dir eine Ohrfeige zu verpassen, verzichte aber aus dem gleichen Grund darauf.«
»Mir? Eine
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