Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
veränderte. Die Spannung wich aus ihrem Körper, sie saß zusammengesackt am Steuer, mit rundem Rücken, herunterhängenden Schultern, und unterhielt sich leise mit ihrer Mutter, und ich lauschte ihrem Gegurgel wie einem Windspiel oder fernem Meeresrauschen. Ich lehnte mich auf dem Rücksitz zurück und döste immer wieder weg. Ab und zu öffnete ich ein Auge und traf Tammys Blick im Rückspiegel.
»Übermorgen ist alles überstanden«, sagte Claudia. Sie hatte zur Begrüßung nicht aufstehen können, weil Ferdi auf ihrem Schoß schlief und Tammys Mutter hatte sie stürmisch darin bekräftigt, dass das Kindeswohl immer vorgehe. Sie schüttelten sich über Ferdis verschwitzten Kopf die Hände. Die Sachlichkeit von Ferdis ukrainischer Oma brüskierte mich. Sachlich waren wir schließlich selbst, hier hätte ich Emotionen erwartet. Ich hatte das Gefühl, dass in den Blicken, die sie ihrem Enkel und dann Tammy zuwarf, die stumme Frage stand: Ist der wirklich von dir?
Jetzt waren Tammy und ihre Mutter im oberen Stockwerk verschwunden, um ein weiteres Zimmer in Beschlag zu nehmen, und Claudia saß immer noch da, und mein kleiner Bruder machte beim Schlafen leise Raspeltöne. Auch Claudia fielen immer wieder die Augen zu, aber sie schreckte jedes Mal hoch.
»Sie ist nett, nicht?« murmelte sie, und ihre Lider flatterten.
»Mama Evgenija? Einfach reizend«, sagte ich.
»Übermorgen«, flüsterte Claudia. »Übermorgenabend ist alles vorbei.«
Um acht Uhr morgens klingelte mein Handy. Ich fuhr hoch, fegte es mit dem Arm vom Nachttisch und rutschte auf den Boden, um es wieder einzufangen. Es sprang vibrierend und blinkend davon. Ich jagte ihm hinterher wie der Storch der Kröte. Vielleicht war ich inzwischen vollkommen irre geworden und hatte mich damit meiner Umgebung angepasst. Aber dann erwischte ich es, und es klingelte immer noch, und ich drückte es ans Ohr. Die Nummer auf dem Display sagte mir nichts, aber ich wusste schon, wer es war.
Und ich irrte mich. Es war nicht Janne, es war überhaupt niemand von der Krüppeltruppe. Es war Lucy.
Ich erkannte sie, noch bevor sie ihren Namen ausgesprochen hatte. Ich hatte ihre Nummer zusammen mit allen anderen gelöscht, aber ihre Stimme im Hörer versetzte mich für eine Sekunde in eine Zeit, die es für mich längst nicht mehr gab. Ich spürte, wie sich meine Mundwinkel zu einem dummen Lächeln verzogen. Das aber genauso schnell verkümmerte, als Lucy mir stockend kondolierte. Ihre Stimme war ganz belegt, als hätte sie aus falsch verstandener Solidarität stundenlang geheult.
»Danke«, sagte ich. »Das ist sehr lieb von dir, an mich zu denken.«
»Ich bin froh, dass ich dich endlich erreicht habe«, sagte sie. Ich wartete. Ich war bei aller Sentimentalität weniger denn je in der Stimmung, mein Verhalten des letzten Jahres zu diskutieren. Sie war schließlich nicht dumm, sie kapierte es schon von alleine.
»Wie geht’s dir, Marek?« fragte sie, die Stimme wieder ganz klar, ganz hell, und ich spürte, ein falsches Wort oder ein verunglückter Ton, und sie würde sofort in Tränen ausbrechen. Ich konnte den Rand des Nervenzusammenbruchs förmlich riechen. Nicht, dass sie dazu neigte, aber auch sie hatte ihre Grenzen, und ich kannte sie offenbar immer noch ziemlich gut.
»Woher weißt du ..?« fragte ich.
Es war ganz einfach. Sie habe bei uns zu Hause angerufen, um nach mir zu hören. Sie habe auf unseren Anrufbeantworter gesprochen, und ein sehr netter Mann namens Dirk habe ihn abgehört. Er habe zurückgerufen, ihr alles erzählt und sie ermutigt, sich zu melden, denn in dieser Situation, meinte Dirk, könne ich den Zuspruch einer alten, lieben Freundin sicherlich gut gebrauchen.
»Schwachkopf«, sagte ich.
Sie lachte. »Nein«, sagte sie. »Er kennt dich einfach noch nicht so gut.«
»Lass das ›noch‹ weg«, sagte ich.
Sie schwieg, und ich war froh, dass sie in dieses Geplänkel nicht einstieg. Sie fragte nach meinem Vater, hielt die Luft an, als ich vom Genickbruch beim Gipfelsturz erzählte, und ich hörte sie mehrmals laut schlucken, als ich unseren Besuch am offenen Sarg schilderte. Ich war froh, es endlich jemandem erzählen zu können.
»Ich wusste gar nicht, dass du einen kleinen Bruder hast«, sagte sie nach einer Pause.
»Ich hatte ihn auch nicht direkt.«
»Aber jetzt.«
»Aber jetzt«, stimmte ich halbherzig zu.
»Darf ich zur Beerdigung kommen?«
»Nein«, sagte ich schnell. »Auf gar keinen Fall. Du hast ihn nicht einmal
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