Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
Ohrfeige? Wieso?«
»Weil mir deine Ich-Bezogenheit und dein überlegen-überdrüssiger Gesichtsausdruck auf die Nerven gehen«, sagte Claudia gleichmäßig.
»Das ist nicht mein Ausdruck, mein Gesicht ist so zusammengenäht worden.«
»Erzähl mir nichts über dein Gesicht«, sagte Claudia. »Ich kenne es inzwischen viel besser als du.«
Wir mussten unterbrechen, weil Evgenija mit einer Einkaufsliste auftauchte, deren Länge mich schwindlig machte. Sie setzte sich zu Claudia, und sie guckten beide drauf und konferierten über einzelne Zutaten. Ich hörte ihnen staunend zu. Sie sahen wirklich aus wie Schwestern. Und das, was Claudia gestern bei Tammy noch auf die Palme gebracht hatte, ließ sie heute komplett kalt. Der Leichenschmaus machte ihr nichts aus, obwohl sie gestern noch erzählt hatte, dass normale Leute in Entenhausen dafür eine Gastwirtschaft pachteten, und zwar eine konkrete, die schon seit Generationen darauf spezialisiert sei. Der Ort sei überaltert, hier werde viel gestorben, und wer dazugehören wolle, tanze in Sachen Trauerfeier nicht aus der Reihe. Jetzt äußerte Claudia nur ihre Begeisterung über die Zusammenstellung der Speisen, und sie schien es ernst zu meinen – ich kannte schließlich ihre Tonfälle.
Ist wohl so ein Generationending, beschloss ich und sah Tammy entgegen, die mit Ferdi auf dem Rücken die Treppe herunterkam.
»Du fährst also mit uns einkaufen?« fragte sie anstelle einer Begrüßung.
»Guten Morgen, liebe Stiefmutter«, sagte ich. Etwas unpassend fiel mir gerade ein, wie sehr mein Vater, als ich klein gewesen war, auf die Einhaltung der Regeln gepocht hatte, wozu Begrüßungen, Verabschiedungen, alle erdenklichen Höflichkeitsfloskeln und das Händewaschen gehörten.
Sie schaute mich stirnrunzelnd an. Ich dachte, dass wenigstens ihre Mutter wie eine Frau aussah, die ziemlich viel Humor hatte, und plötzlich wurde mir klar, dass ich mir um Claudia keine Sorgen zu machen brauchte. Eine Frau, die witzig war, würde nie allein bleiben. Egal, was passierte, mit einer witzigen Frau brauchte man vor nichts Angst zu haben. Deswegen würde es immer genug Leute geben, die eine solche Frau wollten. Und es wurde immer gleichgültiger, wie sie dabei aussah.
Ich dachte an Janne, die sich bis jetzt keines herausragenden Humors verdächtig gemacht hatte. Daran, wie witzig ein Mann sein müsste, um über sein Gesicht hinwegzutäuschen, dachte ich lieber nicht.
Ich schleppte Einkaufstüten – mit tiefgefrorenem Lachs, der während der Fahrt aufgetaut war und jetzt auf den Grabsteinboden tropfte, Buchweizen- und Hirsepäckchen, einem Jahresvorrat Mehl, einer Fülle gegeneinander klimpernder schmaler Flaschen mit durchsichtiger Flüssigkeit, wiederum tiefgefrorene rote Beeren, die begonnen hatten, dem Fisch blutig hinterherzutropfen, und weitere mir bis dahin völlig unbekannte und vor allem unfassbar schwere Lebensmittel. Als ich versuchte zu sagen, dass ich nicht zwanzig volle Einkaufstüten auf einmal tragen konnte, maß mich Tammy mit ihrem Blick von Kopf bis Fuß. »Bist du ein Mann oder was? Dein Vater …«
»… ist tot«, unterbrach ich sie. »Vielleicht hat er einfach zu viele Tüten geschle…« An dieser Stelle nahm Tammys Mutter mindestens drei aus meinen Händen.
Ich schaute ihr hinterher, wie sie auf ihren hohen Absätzen über den Kiesweg balancierte. Ihr Rücken war sehr gerade und der Hals sah ziemlich muskulös aus. Wahrscheinlich stemmte sie täglich Gewichte.
»Hat sie dich früher eigentlich mal geschlagen?« fragte ich Tammy.
Sie guckte mich mit Jannes verächtlichem Blick an, entriss mir eines der Pakete und lief ihrer Mutter hinterher. Ich schob mich schwer beladen in Richtung Haustür.
Drinnen ging es lustig zu. Ich schnappte Lachen und Wortfetzen auf, und es schien, als wäre eine neue Stimme aus einer der Einkaufstaschen gekrochen. Eindeutig eine Männerstimme. Für einen verrückten Moment stellte ich mir vor, dass mein Vater wieder da war. Um das Rätsel aufzulösen, ging ich hinein. Die Tüten glitten aus meinen verkrampften Fingern. Ich fing sie auf und stellte sie ordentlich ab. Dann rieb ich mir die Hände, rückte die Brille zurecht und schaute ins Wohnzimmer. Und sah den Guru.
Er saß auf der Couch, nippte an einer Kaffeetasse und scherzte mit Claudia. Sie lachte zurück, als hätten beide vergessen, warum wir alle überhaupt hier versammelt waren. Die blaue Tasche von der Kamera lag auf seinem Schoß, er bedeckte sie mit
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