Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
schaute sie mit ähnlichem Blick auf ihn wie Claudia auf mich.
Sie küsste mich dreimal auf die Wangen, dann riss sie mir plötzlich mit schelmischem Grinsen die Brille vom Gesicht.
Mir verschlug es den Atem.
Sie warf die Brille vor ihre Füße und bohrte ihren Absatz erst ins eine, dann ins andere Glas. Sie zersplitterten krachend. Evgenija schob die Scherben mit dem Fuß beiseite und setzte sich ins Auto, wo Tammy schon ungeduldig auf die Hupe drückte. Sie hatte gar nichts mitgekriegt. Ich ließ Ferdi auf den Boden. Er vermied es mich anzuschauen.
»Die Oma, gell«, sagte ich. Ich war glücklich, endlich für einen Moment allein sein zu können. Fast allein. Ferdi lehnte sich gegen mein Bein und störte mich komischerweise überhaupt nicht.
Wir waren beide auf der Couch eingeschlafen, als Tammy zurückkam. Ich wachte auf, weil ich trotz einer neuen Brille ihren Schatten auf meinem Gesicht spürte.
»Deine Mutter ist von deiner Karriere als Erbschleicherin nicht begeistert, oder?« flüsterte ich, weil Ferdi immer noch schlief. »Sie hatte bestimmt eine große akademische Laufbahn für dich vorgesehen, und jetzt sitzt du da in der schlimmsten Provinz und verblödest. Sag mir, dass ich mich täusche.«
»Geht dich nichts an. Ist das deine?«
»Wolltest du ihn reinlegen? Wolltest du in Deutschland bleiben? Aber die Zeiten sind doch längst nicht mehr so, dass ein Mädchen wie du sich dafür leichtsinnig schwängern lässt. Als ich deine Mutter gesehen habe, wurde mir sofort klar, dass du es überhaupt nicht nötig gehabt hattest.«
» Er hat mich reingelegt«, sagte Tammy müde. »Er war angeblich so sicher, unfruchtbar zu sein. Ich dachte, er hätte sich vielleicht nach dir sterilisieren lassen. Ein Kind war das Letzte, was ich wollte. Und jetzt ist er für immer fort, und ich darf die Suppe allein auslöffeln. Also sag, ist das deine?«
Erst jetzt sah ich, dass Tammy eine mittelgroße blaue Tasche in den Händen hielt.
»Nein.«
»Hat vielleicht Claudi sie vergessen?«
»Vielleicht.« Dann richtete ich mich auf, schob Ferdis Fuß vorsichtig von meiner Leiste und nahm die Tasche. Ich wusste sofort, wem sie gehörte. Mein Herz schlug bis zum Hals.
»Ich ruf sie an«, murmelte ich, schob mich an Tammy vorbei und rannte hoch unters Dach.
Ich verriegelte die Tür und stellte einen Stuhl davor. Ich setzte mich auf das Bett, aber es kam mir nicht sicher genug vor, also setzte ich mich auf den Stuhl, den ich vor die Tür gestellt hatte. Ich schloss die Augen, tastete nach dem Verschluss und öffnete die Tasche. Dann zog ich die Kamera heraus, schaltete sie ein und drückte auf Abspielen.
»Hallo, Leute«, sagte der Guru ins Objektiv und lächelte kläglich. Die Kamera schien in seinen Händen zu wackeln, das Bild war furchtbar und seine Gesichtszüge ein wenig verzerrt. Er zog mit einer Hand hektisch den Hut vom Kopf. Es wackelte noch stärker. Anstatt auszuschalten starrte ich mit aufgerissenen Augen aufs Display.
»Hallo, Kinder«, sagte der Guru, und es passierte irgendetwas mit seinen Augen. Sie liefen merkwürdig an. Ich spürte Verlegenheit aufsteigen. Ich war der Meinung, dass Männer nicht weinen sollten.
»Hallo, meine lieben Kinder«, sagte der Guru. »Ihr wisst inzwischen, ihr seid nicht meine einzigen. Ihr seid nur … die interessantesten. Ich hab euch total lieb. Ihr müsst mir nicht glauben. Ihr habt keinen Grund, mir zu vertrauen. Aber ich kann ein wenig ruhiger schlafen, wenn ich weiß, dass ihr wenigstens einander habt.«
Die Kamera glitt aus meinen Händen, und ich fing sie auf. Dann guckte ich weiter. Obwohl es nicht viel zu sehen gab. Der Guru schaute mich vom Display an und weinte. Ich rutschte ungeduldig auf meinem Sitz hin und her.
»… Denkt nicht zu schlecht über mich«, brachte er schließlich hervor.
In diesem Moment drückte mein Daumen auf die Vorspultaste. Ich wollte ihn nicht mehr hören.
Das Gesicht des Gurus verzog sich im Schnelldurchlauf. Es war unmöglich zu sagen, ob er gerade sprach oder stumm an seinen Gedanken herumkaute. Seine Hand flog zu seiner Stirn, sein Hut war zwischendurch auf dem Kopf gelandet und wurde wieder abgenommen.
Ich hatte keine Geduld. Ich drückte auf die Abspieltaste, als im Zeitraffer Jannes Gesicht auftauchte. Janne im Garten, neben ihr Marlon, der die Finger über das Rad ihres Rollstuhls gleiten ließ, eine Geste, von der ich rot wurde. Eine der ersten gemeinsamen Aufnahmen. Sie sahen gut aus, die beiden. Aber es half
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