Neobooks - Die Zitadelle der Träume
plötzlich Erinnerungen in ihm hoch, wie oft er diesen Weg schon in strahlender Rüstung vor seinem siegreichen Heer geritten war, die Straßen gesäumt von jubelnden Menschen, die den Weg der heimkehrenden Krieger mit Blumen bestreuten. Fast meinte er, die Hochrufe zu hören, sah die Bilder der fröhlichen Menschen und des bunten Treibens vor sich.
Jetzt ging er ein letztes Mal diesen Weg, seine blutbesudelte Kleidung klebte am Körper und war zum Teil zerfetzt. Sein Blick streifte kurz den Verband um seine schon vergessene Armwunde, und seine Gedanken wanderten zu seinem Lehrmeister Arneke Portas, der jetzt auf irgendeinem Leichenberg lag. Er hörte dessen Stimme aus längst vergangenen Zeiten: »Prinz Canon, reiß dich zusammen. Das Pferd ist sehr groß, aber du bist stark genug dafür. Tiere spüren Angst, also schluck sie runter. Hoch mit dir!«
Ein Ruck an der Leine ließ ihn taumeln und holte ihn in die Gegenwart zurück. Doch schnell wünschte er, es wäre nicht so gewesen. Verstümmelte Leichen lagen am Straßenrand, Wölfe trabten mit blutigen Mäulern zwischen ihnen herum. Die sonst mit bunten Fahnen geschmückten Häuser wirkten grau und abweisend.
Mit zunehmender Wegstrecke schmerzte auch sein Bein immer unerträglicher, und seine Erschöpfung wurde mit jedem qualvollen Schritt drückender. Immer häufiger strauchelte er, und allein der Gedanke daran, dass er unbedingt und unter allen Umständen auf seinen Füßen die Hinrichtungsstätte erreichen musste, hielt ihn schließlich noch aufrecht. Trotz des eiskalten Regens tropfte ihm Schweiß von der Stirn. Fast war er dankbar, als er endlich ihr Ziel vor sich sah.
Wie oft hatte er mit Derea darüber gescherzt, dass der aufgrund seines Übermuts sicher einmal am Galgen enden würde. Jetzt traf dieses Schicksal ausgerechnet ihn, den stets besonnenen und vernünftigen Planer. Inständig hoffte er, dass es auch hier die Reiter aus Ten’Shur waren, die zur Verstärkung gekommen waren, denn sein Bruder würde ja nicht mehr unter ihnen sein.
Seine müden Augen suchten die Burgmauer ab, konnten seine Mutter aber nirgends ausmachen, und er dankte den Göttern dafür, dass sie es Morwena zumindest ersparten, seine Hinrichtung mit ansehen zu müssen. Er wusste, dass sie nicht hier war, denn dieselben Gründe, die ihn aufrecht hielten, hätten seine Mutter dazu bewogen, ganz vorn auf der Mauer zu stehen.
Nachdem das letzte Geklapper der Pferdehufe verklungen war, herrschte eine beklemmende Stille. Die Hordenkrieger hatten sich befehlsgemäß zurückgezogen, und die Verteidiger Mar’Elchs standen schweigend in einer langen Reihe auf dem Wehrgang.
In Anbetracht der unzähligen Toten, die sich am Fuß der Burgmauer türmten, kam es Canon nur lachhaft vor, dass Camoras Heerführer ernsthaft glaubten, die Schlacht durch die Hinrichtung eines Einzelnen beenden zu können. Wenn sich die friedliebenden Bürger Mar’Elchs in den letzten Tagen an etwas gewöhnt hatten, dann an den Anblick des Todes.
Seine Gedanken wurden unterbrochen, denn gemächlich stieg jetzt der Kommandant der Horden ab und kam auf ihn zu.
Canon atmete tief durch und schickte ein stummes Gebet zu den Göttern, dass sie ihn das Kommende zumindest ehrenvoll hinter sich bringen ließen. Empfinden konnte er plötzlich nur noch Angst: weniger Angst vorm Tod, der ihm im Augenblick als gnädige Erlösung durchaus willkommen gewesen wäre, als vielmehr die Angst vorm qualvollen Sterben.
Er sah das Leitergerüst und die blitzenden Messer und Zangen, und seine Eingeweide zogen sich zusammen. Furcht ließ ihn innerlich zittern. Wie in einem bösen Traum gefangen, folgte er dem Kommandanten unter den hölzernen Galgen.
Mühsam, da seine Hände noch gefesselt waren und sein Bein kaum mehr belastbar war, erklomm er die kurze Leiter, die umgestoßen werden würde, sobald die Schlinge festgezogen war.
Zwei Hordenkrieger zu Pferde grinsten ihn an, legten ihm das Seil um den Hals und zogen es so fest, dass er gerade noch ein wenig Luft bekam.
»Möchtest du deinen Männern noch etwas sagen?«, fragte der Kommandant mit ausdrucksloser Miene. »Wenn du laut genug schreist, können sie dich hören. Schließlich haben wir genau aus diesem Grund diesen Ort für deine Hinrichtung gewählt. Vielleicht schaffst du es ja, sie jetzt schon umzustimmen. Wäre klug von dir, es zumindest zu versuchen.«
Canon blickte genauso ausdruckslos zurück, holte so tief Luft, wie er noch konnte, und brüllte
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