Papier entgegen. Seine Hand zitterte. Die Brünette sah durch ihn hindurch. Verdammt, sie hatte es bemerkt, bestimmt hatte sie es bemerkt.
»Möchten Sie bestellen?«
Kalle schüttelte den Kopf, ohne aufzusehen. Er atmete tief durch, wartete, bis er wieder allein war, und faltete das Papier auseinander. Eine ausgedruckte E-Mail von
[email protected] an
[email protected]:
Wie mit Ihnen eben telefonisch besprochen, bitte an Herrn Bärwolff weiterleiten (
20
Uhr, Tischreservierung auf den Namen Clasen).
Sehr geehrter Herr Bärwolff, leider ist mir kurzfristig etwas dazwischengekommen, das ich nicht aufschieben kann. Da ich Sie mobil nicht erreichen konnte …
Kalle legte die Hand auf sein Herz, dorthin, wo sonst die Brusttasche seines Jeanshemdes war. Nichts, nur hektisches Klopfen.
… hoffe ich sehr, dass Sie meine Nachricht auf diesem Weg bekommen. Es tut mir wirklich leid. Ich rufe Sie an. Lieber Gruß. Ihre Gesa Clasen.
*
Hamburg-St. Georg, Rostocker Straße
Es hatte zu regnen angefangen, und wie! Nach wenigen Schritten war Kalle durchnässt. Mit voller Wucht donnerte er seine Faust gegen das Türgitter der Buchhandlung Thiede.
Alte Zeiten. Neue Welten. Schöne Seiten.
Er hätte auf seine innere Stimme hören sollen. Hätte, hätte. Jawohl. Kalle hätte alle Hebel in Bewegung gesetzt, nur um den Abend mit Gesa zu verbringen. Wo ein Wille war, da gab es kein Dazwischenkommen! Am Kräuterhaus bog er in die Danziger Straße ein. Zwei hochgewachsene Jungs, passend zum Unwetter im Ganzkörpergummilook, verschwanden unter Kalles
Himmel, Arsch und Zwirn.
Kalle hatte seine Prügelstrafe eben schon bekommen. Mensch, Gesa … Ansonsten war nicht mal ein Hund auf der Straße, nur Kalle. Einziger Lichtblick war der Mariendom. Powered by Gott, hell erleuchtet ragten die Zwillingstürme in die tiefhängenden Wolken. Auf den Zebrastreifen an der Rostocker Straße hatte jemand ein riesiges Zebra gemalt. Hoffentlich konnte es schwimmen. Es entlockte Kalle ein Lächeln. In einer Telefonzelle stellte er sich unter und kippte das Wasser aus seinen trendy Sneakers. An den Fersen hatten sich Blasen gebildet. Alles nur wegen Gesa. Die ollen Bommelslipper waren wenigstens ausgelatscht. Nasse Füße machten aus einem beschissenen Abend einen richtig beschissenen. Nicht weit von hier musste das
Salut
sein. Wie hatte Jette es formuliert? Joris und Jesper seien die postmodernen Max und Moritz. Offensichtlich nur hohl im Kopp. Vorstellbar, dass Joris ein Zuhälter war? Eher als ein Mörder? Vielleicht beides. Jesper schien jedenfalls kein Problem damit zu haben, seinen Bruder bei der Polizei anzuschwärzen.
Wichser!
Kalle würde so ein Vokabular in seiner Familie niemals dulden. Wie glaubwürdig war ein Jugendlicher, dessen Vater überall in der Welt zu Hause war, außer zu Hause, und dessen Mutter reichlich Zeit zum Saufen hatte? Mit der desolaten Datenlage würde Kalle beim Staatsanwalt baden gehen. Das war hier schon mal der Vorgeschmack. Die Aussagen von diesem Hottenmeier, oder wie der hieß, waren auch bloß Gerüchte aus zweiter Hand. Urban fantasy statt Fakten und Beweise. Den Kragen seiner Lederjacke hochgeschlagen, verließ Kalle den Schutz der Telefonzelle und ging auf den Hansaplatz zu. Die Regensiele waren übergelaufen, und das Wasser stand stellenweise knöcheltief auf dem Bürgersteig. Auf Höhe des Jugendzentrums Schorsch musste Kalle deswegen die Straßenseite wechseln und stand direkt vor dem
Salut.
Waschsalon. Im Eingang turtelten zwei Männer, die allein wegen des Größenunterschiedes von gut einem Kopf aussahen wie Comicfiguren. Der eine babyface-blass, hautenge Jeans, eng anliegendes, ärmelloses Shirt, der andere irgendwie schlüpfrig und glibberig. Polierte Glatze, polierte Lederschuhe. Lackäffchen stellte sich auf Zehenspitzen und steckte seine Zunge bis in den Rachen seines toyboys. Kalle lief ein Schauer über den Rücken. Wegen der eiskalten Füße, Kalle war kein Spießer. Oder doch?
Meine Güte … Kalle zögerte, dann folgte er den beiden in den Waschsalon. Niemand zu sehen. Während er die Preistafel studierte, öffnete sich hinter drei Reihen Waschmaschinen die Spiegeltür mit der Aufschrift PRIVAT . »Alls klar?«
Mit der Visage würde Kalle sich nicht ohne Not anlegen. »Alls klar.«
Tür zu. Botschaft angekommen. Mr. Watchdog hatte sein Revier abgepisst. Kalle warf seine Schuhe, die Socken und das T-Shirt in die Trommel, versenkte zwei Euro im Münzschlitz und drückte