Neobooks - Hinter verborgenen Pfaden: Der geheime Schlüssel I (German Edition)
einmal dachte er daran, einfach aufzugeben. Als er endlich im Schutze eines größeren Mischwalds von seinem treuen Gefährten glitt und sich entkräftet auf dem Boden ausstreckte, wusste er nicht einmal, ob er die Kraft und den Willen aufbringen würde, sich jemals wieder zu erheben.
Er zitterte vor innerer Kälte und schwitzte gleichzeitig so sehr, dass ihm der Schweiß in die Augen floss. Trotzdem schlief er augenblicklich ein. Als er wieder halbwegs zur Besinnung kam, dämmerte bereits der Abend. Das Fieber griff mit gierigen Fingern nach ihm und lullte ihn ein. Die Stimmen in seinem Hinterkopf mahnten ihn, sich aufzurappeln und weiterzuziehen oder sich zumindest einen frischen Verband und einen weiteren Tee zuzubereiten, aber er schaffte es nicht einmal, sich aufzusetzen, geschweige denn, ein Feuer zu entfachen.
Die Nacht brach herein, ohne dass er sich vom Fleck gerührt hätte. Die Augenblicke, in denen er klar war, wurden immer seltener. Das Fieber hatte ihn fest im Griff. Sein Kopf war schwer wie Blei, der Schmerz in seinem Bein ein eintöniges Brummen, das mittlerweile auch auf seinen Unterleib übergegriffen hatte. Irgendwann, kurz nach Tagesanbruch, gelang es ihm, so weit aufzutauchen, dass er wieder wusste, wer er war. Die Augen waren trüb, und alles um ihn herum wirkte verschwommen. Er erkannte den Esel, der an einigen dürren Grashalmen kaute. Mit letzter Kraft zog Philip den Sack mit den Mohrrüben zu sich herüber und knotete ihn auf, dann brach er neben ihm zusammen.
Sein altes Leben zog an ihm vorbei. Immer wieder tauchte Jar’janas Gesicht vor seinem inneren Auge auf. Tränen überschwemmten sein Herz, denn er wusste, dass sie tot war. Ob er sie wiedersehen würde, wenn er starb? Der Funken, der noch von ihm übrig war, rüttelte und rebellierte. Er sah das Gesicht seiner Mutter, die sich über ihn beugte und mit ihrer kühlen Hand seine Stirn streichelte. »Du darfst nicht aufgeben«, flüsterte sie ihm zu und hauchte ihm einen Kuss auf die Nasenspitze, so wie sie es gemacht hatte, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Dann verschwamm ihr Gesicht, und er sah viele bekannte Gesichter, deren Namen ihm nicht mehr einfallen wollten. Sie weinten, und ihre Tränen benetzten sein Gesicht und seine Hände. Nur Theophil schaute böse, mit zusammengekniffenen Augenbrauen durch sein Augenglas. Er sagte nichts, aber Philip konnte seine Gedanken spüren. Sie grollten wie Donner durch seinen Kopf. Philip versuchte sich aufzurichten und dem Willen seines Lehrers Folge zu leisten, aber seine Glieder gehorchten ihm nicht mehr. Ich habe es versucht, wollte er ihm sagen, doch plötzlich verschwand Theophils Gesicht, und Philip stand mit seinen Brüdern am Teich unter der großen Trauerweide. Sie balgten im Wasser, er aber war unfähig, zu ihnen zu gehen. Er fror und zitterte und wollte ihnen etwas zurufen, aber sie konnten ihn nicht hören, nur das Wasser spritzte zu ihm herüber. Ihr Lachen dröhnte in seinem Kopf. Alles um ihn herum begann sich zu drehen, dann wurde es still und dunkel. Still und dunkel. Es gab nichts in dieser Dunkelheit. Keine Gedanken und keine Erinnerung. Keinen Körper und keine Schmerzen.
Zunächst bemerkte er es gar nicht, das kleine Licht in der Ferne. Doch dann wuchs es und war bald so groß wie ein Stern. Er erkannte, dass es auf ihn zukam. Nach einer Weile bekam es die Form eines Tores, aus dem ein breiter Lichtstrahl ihm den Weg beleuchtete. Philip strebte darauf zu. Bald erfasste ihn das Licht. Es wärmte ihn nicht und es tröstete ihn nicht. Trotzdem folgte er ihm willenlos, bis er schließlich vor dem Tor stand.
Das Tor war größer als alles, was er je gesehen hatte. Das Licht war so vollkommen und alles erfassend wie die unendliche Dunkelheit davor. Zögernd wich Philip zurück, um sich das Tor noch einmal anzusehen. Irgendetwas sagte ihm, dass sich dahinter ein Ort ohne Wiederkehr befand, trotzdem zog ihn das Tor magisch an. Doch als er sich ihm wieder näherte, schien es vor ihm zurückzuweichen. Erst langsam, dann aber immer schneller. Innerhalb weniger Augenblicke war es zu einem Stern zusammengeschrumpft und verlosch schließlich ganz. Er war wieder alleine. Alleine in der Dunkelheit. Alleine und hoffnungslos.
Wenn es davor noch etwas gegeben hatte, was ihn ausmachte, so war das jetzt im Begriff sich aufzulösen und sich für immer im Dunkel zu verlieren. Er war die Dunkelheit, die Dunkelheit war er. Ein leises Bedauern blieb, weil er nicht das Tor aufgestoßen
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