Neobooks - Hinter verborgenen Pfaden: Der geheime Schlüssel I (German Edition)
versetzte.
6. Flimmernde Luft
P hilip war müde und unkonzentriert. Er merkte, dass sein Lehrer ihn tadelnd ansah, aber er konnte einfach nicht aufhören zu gähnen. Zwei Nächte in Folge war er sehr spät zu Bett gegangen und hatte zudem unruhig geschlafen. Seine Mutter war beinahe den ganzen Sonntag im Zimmer der Elbin gewesen. Jedes Mal, wenn sie in die Küche kam, war sie nachdenklich und besorgt. Philip wagte gar nicht zu fragen, wie es ihr ging, nutzte aber jede Gelegenheit, um in der Nähe des Zimmers herumzuschleichen, in der Hoffnung, einen Blick auf die Schönheit zu erhaschen.
Auch jetzt kreisten seine Gedanken nur um Jar’jana.
Als die Mittagsglocke läutete, entließ Lehrer Theophil seine acht Schüler. Es waren ausnahmslos Buben zwischen zwölf und fünfzehn Jahren.
Nur die Hälfte von ihnen kam aus Waldoria. Die anderen waren die Söhne wohlhabender Bürger aus den Städtchen Mendebrun und Markt Krontal, einer von ihnen war der jüngste Sohn Baron Felhorns. Laurenz von Felhorn würde gemeinsam mit Philip in diesem Sommer die Klasse verlassen. Soweit Philip gehört hatte, sollte er danach in der Schreibstube des Königs eine Stellung erhalten, da die Mittel des Barons erschöpft waren.
Tjalf, der Sohn eines berühmten Arztes, ließ keine Gelegenheit aus, sich über diesen Umstand lustig zu machen.
»Philip, auf ein Wort«, donnerte Theophil, als Philip sich gerade seine Sachen unter den Arm klemmte. Aus dem Augenwinkel konnte er noch Tjalfs hämisches Grinsen sehen. Er schnitt dem Jüngeren eine Grimasse, legte seine Schreibtafel zurück auf das Pult und wandte sich dem Lehrer zu.
Theophil kramte so lange in seinen Unterlagen, bis der letzte Schüler den Raum verlassen hatte, und brummte dann: »Mach die Tür zu!«
Philip gehorchte.
»Was war heute los mit dir? So habe ich dich noch nie erlebt.« Theophil kam ohne Umschweife zur Sache.
»Ja, also … ich habe nicht viel geschlafen … Entschuldigung …«, brummelte Philip.
»Lass gut sein, jeder hat mal einen schlechten Tag. Ich hoffe, daran ist nicht das Buch schuld, das ich dir geliehen habe.« Theophil lächelte milde.
»Nein, ich hatte auch noch nicht viel Zeit, um darin zu lesen«, gestand Philip.
Theophil nickte und sah ihn über sein Augenglas hinweg ernst an.
»Du wirst alles, was du heute verträumt hast, bis morgen nacharbeiten. Die Geschichte unseres Landes ist ein wichtiges Thema. Verstanden?«
Philip nickte.
»Haben deine Eltern entschieden, wie es weitergeht?«, fragte der Lehrer mit gesenkter Stimme.
»Mutter erwähnte, dass ich im Monastirium Wilhelmus studieren solle. Aber …«
»Das ist gut. Eine sehr gute Entscheidung.« Der Lehrer nickte zufrieden. »Ich werde dem Abt gleich ein Schreiben zukommen lassen. Eine sehr gute Entscheidung«, wiederholte er. »Du musst noch viel lernen.« Mit diesen Worten stand er auf und begann, nach etwas zu suchen. Dabei murmelte er unverständliche Worte vor sich hin, huschte dabei von einem Schrank zum anderen und suchte darin wie ein Vogel, der im Gras nach Würmern stochert. Dann drehte er sich zu Philip um. »Jetzt kannst du gehen.«
Philip verneigte sich. »Auf Wiedersehen, Herr Lehrer«, sagte er und verließ den Raum.
Kaum stand er draußen in der Sonne, erwachten auch seine müden Lebensgeister wieder. Beschwingten Schrittes lief er nach Hause. Sein Herz klopfte erwartungsfroh in der Brust. Vielleicht würde er sie heute sehen. Allein der Gedanke an sie ließ ihn seinen Schritt beschleunigen. Vielleicht war sie ja diesmal wach und … Er wagte nicht, sich auszumalen, was geschehen würde, wenn sie zum ersten Mal mit ihm sprach. Nur ein Wort von ihr, ein Blick in ihre Augen, und es würde nichts mehr so sein wie vorher. Ein Wort von ihr konnte sein Leben verändern.
Obwohl die Sonne warm auf seinen Rücken schien, fröstelte er.
»Sag mal, stehst du auf deinen Ohren? Ich brüll mir die Seele aus dem Leib.« Jacob kam keuchend angelaufen.
»Wo kommst du denn jetzt her?«, fragte Philip verwundert.
»Nachsitzen! So wie du.« Er grinste breit.
»Ich habe nicht nachgesessen«, wehrte sich Philip.
»Natürlich nicht, großer Bruder. Aber ich, und ich sag dir, diesen Zirkus mach ich nicht länger mit. Ich such mir im Herbst eine Lehrstelle, oder noch besser, ich werde Ritter und zieh in den Kampf, so wie früher.« Jacob grinste. Die Sommersprossen tanzten frech auf seiner Nase, und er wedelte mit dem Arm, als würde er ein Schwert führen.
»Träum weiter«, lachte
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