Neongrüne Angst (German Edition)
Kontoauszugautomaten und sah mit einer Mischung aus Selbstmitleid und Entsetzen die Zahlen.
Johanna grüßte ihn nicht, und er schien sie nicht bemerkt zu haben. Ihr war das recht so.
Sein Kopf war immer noch verbunden. Er sah blass aus und bewegte sich schleppend, mit hängenden Schultern.
Sie fuhr die Rolltreppe hoch. Bei Phan war es brechend voll. Alle Tische besetzt. Es roch nach Hühnchen süß-sauer und im Wok gegartem Gemüse.
Sie versuchte, sich wie ein Mensch zu bewegen, der aus reinem Vergnügen flanierte. So wie ihre Freundinnen, wenn sie wieder mal einen Shoppingausflug machten.
Sie kannte niemanden von den Gästen, die bei Phan saßen. Jemand stand bei den Kinoplakaten und sah sich die Anfangszeiten an. Es war ein Junge mit tiefsitzender Hose, roten Adidas und einem Kapuzensweatshirt. Sie versuchte, sein Gesicht in der Spiegelung der Scheibe zu erkennen, es war ihr aber nicht möglich, ohne sich zu auffällig zu benehmen.
Die Eisdiele war schwerer zu überblicken. Es konnten sich durchaus drinnen Leute aufhalten, die nicht so ohne weiteres zu sehen waren. Deshalb beschloss sie, sich eine Waffel mit Erdbeer- und Stracciatellaeis zu kaufen.
Hinten in der Ecke, fast nicht zu sehen, saß Jessy und flirtete mit einem Typen, den Johanna nicht kannte.
Hat sie sich da hinten versteckt, weil sie sich noch nicht mit ihrer neuen Eroberung in der Öffentlichkeit zeigen will, oder sitzt sie da, weil sie darauf wartet, dass es endlich fünfzehn Uhr wird und ich hier die große Show liefere? Wenn ich wegrenne, würde ich vermutlich am Eiscafé vorbeilaufen, um nach unten zu fliehen. Beides war möglich.
Der Mann war mindestens Mitte zwanzig, schätzte Johanna. Er hatte krause schwarze Haare, dunkle Augen, und unter der Nase wuchs ihm ein Stoppelbart. Sein weißes Hemd strahlte geradezu, und an seinem braunen Armgelenk baumelte eine große, protzige goldene Uhr. Johanna hätte ihren kleinen Finger darauf verwettet, dass das Ding nicht echt war und nicht dazu diente, die Zeit anzuzeigen, sondern nur dazu da war, oberflächliche Tanzmäuse wie Jessy zu beeindrucken.
Wenn Johanna an Tobias Zenk und ihren Bruder Ben dachte, spürte sie Schadenfreude. Sollten sie doch ruhig merken, dass man eine wie Jessy sowieso nicht für sich haben konnte. Höchstens für ein paar Stunden, Tage oder Wochen, dann flatterte sie zum Nächsten.
Geschieht euch recht, dachte sie grimmig.
Sie holte sich einen Einkaufswagen und schob ihn in den Supermarkt. Es war für diese Tageszeit voll, aber immer noch übersichtlich.
Wie gut, dass ich zu früh gekommen bin, dachte sie. Keiner von euch wird mich beobachten.
Sie packte Chips, Salzstangen, gesalzene Erdnüsse und Wasabinüsse in den Wagen und nahm auch noch zwei in Plastik eingeschweißte Baguettestangen mit. Dann ging sie zur Kasse. Dort wurde ihr für einen Moment heiß und kalt, weil ihr plötzlich einfiel, dass sie möglicherweise durch die Videokameras beobachtet wurde.
Hatte ihr Verehrer Beziehungen zu den Läden? Hatte er vielleicht die Geschäfte sogar danach ausgesucht, wo er mal in die Videokamera gucken konnte? War das vielleicht sogar sein Beruf? Installierte oder reparierte er Sicherheitsanlagen?
Ihre Lunge brannte, und ihr Atem ging holprig.
In den Bauch atmen, dachte sie sich. In den Bauch atmen. Tu jetzt genau, was Pit dir geraten hat.
Das Neonlicht hier war plötzlich so unangenehm und hell. Am liebsten hätte sie den Einkaufswagen mit allen Waren stehen lassen und wäre einfach weggerannt. Aber in dem Moment war sie schon dran.
Die Kassiererin war nicht viel älter als Johanna. Sie lächelte sie an, als ob die beiden alte Bekannte wären, aber Johanna konnte sich nicht daran erinnern, sie schon mal irgendwo gesehen zu haben.
Die Kassiererin scannte die Waren routiniert ein, und als sie den Preis nannte, wurde Johanna schwindlig, denn sie beendete den Satz mit: »Schöne Grüße an Ben.«
Johanna hielt einen Zwanzig-Euro-Schein hin, aber das reichte nicht. Die Kassiererin mit der Scarlett-Johansson-Frisur lächelte: »Noch drei Euro fünfzehn, Johanna. Du bist doch die Johanna, oder nicht?«
Johanna nickte und legte noch fünf Euro aufs Band.
Sie packte alles in eine Tüte und versuchte, alles im Blick zu haben, auch hinter sich.
Ich muss wirken, als sei ich völlig paranoid, dachte sie.
Dann ging sie fest entschlossen in Richtung Mediterraneo zu Il Mercato.
48
Das Mediterraneo war eine Art italienisches Dorf, nur ohne echte Bewohner. Eine künstliche
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