Neongrüne Angst (German Edition)
verschwunden. Sie befingerte sich, als würde sie etwas Reales vermissen, das gerade noch auf ihrer Haut zu spüren gewesen war. Mit Schaudern sah sie Pit an. Vielleicht war endlich jemand gekommen, der stärker war als sie und in der Lage, mit der Situation fertigzuwerden. Jemand, der einen klaren Blick hatte und entscheidungssicher war. Genau so jemanden hatte sie sich die ganze Zeit herbeigewünscht. Doch sie wäre nie auf die Idee gekommen, dass Pit dieser Jemand war. Er, der eher Sanfte, der Weiche, der Streit aus dem Weg ging, der von Volker zusammengeschlagen worden war. Der schmale Junge mit der Sanitäterausbildung, der am Wochenende freiwillig beim Roten Kreuz Dienst machte, und während sich andere bei Konzerten betranken und randalierten, kümmerte er sich um Verletzte, Ohnmächtige und Kids mit Alkoholvergiftungen.
»Du musst keine Angst mehr haben, Johanna. Ich werde dich beschützen. Du bist kein Freiwild mehr. Leon konnte doch kein Schutz für dich sein. Der wohnt in Ganderkesee und du in Bremerhaven. Du liebe Güte … Ich werde da sein, wo du bist.«
Sie befühlte sein Gesicht, als müsse sie sich vergewissern, dass er wirklich da war. Dann flüsterte sie: »Wenn dieser Typ erfährt, dass du mein Beschützer bist … wenn er mitkriegt, dass wir zusammen abgehauen sind, dann …«, sie traute sich kaum, es auszusprechen, »dann wird er versuchen, dich zu töten.«
Pit nickte. »Das hat er bereits, Johanna. Und ich habe seinen Angriff überlebt. Aber beim nächsten Mal werde ich schneller sein.«
Er zog aus seiner schwarzen Motorradjacke eine dunkle Spraydose.
»Pfefferspray«, grinste er. »Sehr wirksam. Macht den Gegner für eine Weile orientierungslos und tut saumäßig weh in den Augen. Ich habe ein paarmal Leute versorgt, die das Zeug in die Augen gekriegt hatten. Das ist besser als jede Schusswaffe. Und du musst den Gegner nicht töten. Zwei, drei Tage später ist alles wieder gut.«
Pits Art der Selbstverteidigung nahm Johanna noch mehr für ihn ein. Er machte sich sogar Gedanken darum, seinem Gegner keinen bleibenden Schaden zuzufügen. Er wollte ihn nur außer Gefecht setzen. Dann sollte es ihm schnell wieder bessergehen.
Ein warmes Prickeln in ihrem Inneren zeigte ihr erst, wie kalt sie sich gefühlt hatte.
Du tust mir gut, dachte sie. Du tust mir ja so gut. Im Grunde hast du mir immer gutgetan. Ich hab’s nur nicht wirklich bemerkt. Wer hat mir denn geholfen, als ich aus der Achterbahn kam und ohnmächtig wurde? Wer war denn morgens mit dem Motorrad da, als es den Stress gab wegen des Unfalls?
Sie kuschelte sich an ihn und wartete darauf, dass er den Versuch machen würde, sie zu küssen. Sie war bereit dafür.
Er tat es nicht, und auch das sprach für ihn, fand sie. Er wollte diese Situation ihrer großen Verunsicherung nicht ausnutzen.
63
Leon fuhr mit Tanja zu ihrer Wohnung im Stadtteil Grünhöfe. Während der Fahrt schrien sie entweder, oder beide redeten gleichzeitig los, um dann sofort wieder zu verstummen. Die Worte kamen wie Ebbe und Flut.
Tanja Hoffmann wohnte in einem Wohnsilo der GEWOBA Auf der Bult. Vor vielen Jahren musste der Flur einmal weiß gestrichen worden sein. Davon war aber nicht mehr viel übrig. In Kniehöhe waren schwarze Fußabdrücke an den Wänden. Offensichtlich hatten hier öfter Männer gestanden, einen Fuß an der Wand und einen auf dem Boden.
Es gab einen Fahrstuhl, aber selbst wenn er funktioniert hätte, wäre Leon nicht eingestiegen. Das Ding wirkte auf ihn wie eine Falle, aus der man so leicht nicht wieder herauskam.
Jemand hatte ein Gesicht mit einem schmierigen Grinsen auf die Tür gemalt, so als würde der Fahrstuhl nur darauf warten, dass irgendein Dummer versuchte, mit ihm nach oben zu fahren.
Tanja deutete auf den Fahrstuhl, und als sie Leons Skepsis sah, versuchte sie ihn noch kurz zu überzeugen: »Ich wohne im fünften Stock. Die haben hier viel gemacht im Viertel. Das wird mal eine richtig schicke Wohngegend. Aber bei uns sieht es noch aus wie früher.«
»Mag sein. Aber da steig ich nicht ein. Sieht aus, als würde uns das Ding direkt in die Hölle bringen.«
Das Treppenhaus war sauber, blitzblank gewischt. Leon nahm die Stufen mit großen Schritten. Tanja kam kaum mit.
Tanja wohnte bei ihren Eltern und betonte, dass sie sich bei ihrem Gehalt so bald auch keine eigene Wohnung leisten könne. Es kam Leon so vor, als würde sie sich ein bisschen für die billige Einrichtung schämen. Als ob das jetzt irgendeine Rolle spielen
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