Neonregen (Detective Dave Robicheaux) (German Edition)
gerne Annie angerufen, aber ich dachte mir, daß ich ihr in der letzten Zeit schon genug traumatische Momente beschert hatte und ihr diesen vielleicht ersparen sollte. Dann ging ich wieder nach oben, wo ich mich mit den Krankenschwesternunterhielt und mit einer älteren Cajun-Dame aus Thibodaux anfreundete, die nur schlechtes Englisch sprach und sich um ihren Mann Sorgen machte, der gerade im Operationssaal war. Zu guter Letzt sah ich mir die Spätnachrichten im Fernsehen an und schlief dann zusammengerollt wie ein Fötus auf der kurzen Couch ein.
Am Morgen weckte mich eine katholische Schwester mit einem Glas Orangensaft und sagte mir, ich könne jetzt ein paar Minuten meinen Bruder sehen. Jimmies Kiefer und Schädel waren dick mit Bandagen umwickelt und sahen fast aus, als seien sie eingegipst. Sein Gesicht war bleich und eingefallen, und seine beiden Augen wirkten hohl und schwarz, als hätten sie ein paar schwere Fausthiebe abbekommen. Eine intravenöse Nadel ragte, mit einem Streifen Heftpflaster befestigt, aus der blauen Vene in seiner rechten Armbeuge. In seiner Nase steckte ein Sauerstoffschlauch, und seine nackte Brust war übersät mit zahllosen in sich verschlungenen elektrischen Drähten, die zu den Überwachungsgeräten führten. Er sah aus, als habe man das Leben mit einem Strohhalm aus ihm herausgesaugt. Die rund um ihn aufgebauten Maschinen mit ihren blinkenden Lämpchen schienen eine besserer Zukunft und mehr Lebensfähigkeit zu besitzen als er.
Ich fragte mich, wie mein Vater darüber denken würde. Mein Vater war oft in Kneipenschlägereien verwickelt gewesen, aber er hatte immer nur aus Spaß gekämpft und waren in keiner Weise nachtragend gewesen. Er trug grundsätzlich keinen Revolver, selbst wenn er mit professionellen Spielern bourée spielte, die als gefährliche und gewalttätige Männer bekannt war. Aber die Welt heute war anders als New Iberia in den vierziger Jahren. Heute hatten wir es mit Leuten zu tun, die die moralischen Prinzipien von Piranhas hatten und einem Mann, den sie gar nicht kannten, den Kopf voll Blei pumpten, um anschließend das Geld, das sie dafür kassierten, für Kokain und Nutten auszugeben.
Ich sah ein schwaches Leuchten in Jimmies Augen aufflackern, als er mich erkannte. Seine Augenlider wirkten, als seien sie aus Papier gemacht und mit violetter Farbe eingefärbt.
»Wie geht’s, alter Junge?« fragte ich. Ich strich mit der Hand über seinen Arm und drückte kurz seine Hand. Sie fühlte sichschlaff und leblos an, genau wie Johnny Massinas Hand, als ich mich am Abend vor seiner Hinrichtung von ihm verabschiedet hatte.
»Hast du gesehen, wer’s war?«
Ich sah, wie er schluckte, und seine Zunge hinterließ ein paar kleine Speichelbläschen auf seiner Unterlippe.
»War’s vielleicht dieser Philip Murphy?« fragte ich. »So ein Typ im späten Mittelalter, altmodisch aussehend und mit Brille? Wie jemand, der den Kindern auf dem Schulhof obszöne Postkarten verkauft?«
Er wandte seine Augen von mir ab, wobei seine Lider flatterten.
»Oder vielleicht so ein kleiner, dunkler Typ?«
Jimmie begann etwas zu flüstern, verschluckte sich aber an der Flüssigkeit in seiner Kehle.
»Schon gut, mach dir jetzt keine Gedanken«, sagte ich. »Du bist hier völlig sicher. Drei uniformierte Polizeibeamte bewachen dich, und außerdem schau ich regelmäßig bei dir rein. Aber während du dich wieder erholst, krieg ich raus, wer uns das angetan hat. Du erinnerst dich doch, was der Alte immer zu uns gesagt hat – ›Wenn du ’nen Gator am Schwanz ziehst, reißt er dir die Kniescheiben weg, der Kerl.‹«
Ich lächelte ihn an. Dann sah ich, wie seine Augen wieder aufflackerten, als wolle er mir etwas Wichtiges sagen. Sein Mund öffnete sich, und er gab ein trockenes Geräusch von sich.
»Nicht jetzt, Jim. Dafür ist später noch Zeit genug«, sagte ich.
Er hob mühsam seine Hand vom Bettlaken und berührte damit meine Brust. Dann begannen seine Finger auf meiner Haut etwas zu zeichnen, aber er war so schwach, daß die Linien, die er zeichnete, kaum kräftiger waren als ein über meine Rippen gespanntes Spinnennetz. Ich nickte und tat so, als ob ich verstanden hätte. Vorsichtig legte ich seine Hand zurück aufs Bett. Die Kraft und Anstrengung waren aus seinen Augen verschwunden, und er blickte an die Decke wie ein Mensch, der plötzlich gezwungen ist, sich in einer völlig neuen, dunklen Dimension zurechtzufinden.
»Ich hab schon viel zuviel gequatscht. Leg dich einfach
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