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Neonträume: Roman (German Edition)

Neonträume: Roman (German Edition)

Titel: Neonträume: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Minajew
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Ein netter Junge, nicht mehr und nicht weniger. Warum soll ich allein für die Sünden der ganzen Menschheit büßen? Damit den anderen der Spaß vergeht? Ha! Die werden überhaupt nichts davon erfahren! Superstars verrecken elendig an Aids, Drogen oder Alkohol, die Massenmedien berichten davon in aller Welt, aber nicht einmal das schützt einen einzigen Menschen, hindert die Verbreitung der Seuche, macht irgendetwas besser. Die Menschen sind hemmungslos leichtsinnig. Das lehrt sie der technische Fortschritt. Ob Gott wohl davon weiß– wenn es ihn denn gibt? Vielleicht hat er ja doch irgendwo einen Fehler gemacht? Das kommt vor, jeder macht schließlich mal Fehler. Dann könnte er die Sache auch wieder geradebiegen, und wir würden einander feierlich verzeihen, ich bin ja nicht nachtragend. Tja, das ist natürlich Unsinn. Aber so ist das, erst wenn man in der Scheiße sitzt, denkt man an den lieben Gott. Weil einem sonst niemand mehr helfen kann.
    Um halb eins verändert sich die Lage rapide zum Schlechten. Zuerst rufe ich Lena an und schlage ihr mit kreideweicher Stimme vor, den allerbesten Arzt Moskaus zu konsultieren. Außerdem erkläre ich, nunmehr, da sie im Begriffe sei, Mutter zu werden und ich Vater, sei es unumgänglich, dass wir uns von jetzt an jeden Tag sehen. Jemand müsse sich um alles kümmern und für sie sorgen und so weiter. Und deshalb würde ich umgehend, das heißt morgen, gleich nach dem Termin beim Arzt, zu ihr ziehen. Lena ahnt natürlich nicht, dass das Ganze eine Falle ist, sie ist total gerührt und weint fast vor Glück. Sie ist mit allem einverstanden. Das wäre also geschafft. Mies zu handeln ist sogar noch leichter, als mies zu denken.
    Die Erleichterung über den Verlauf des Gespräches treibt mich aufs Klo, wo ich feststellen muss, dass ich einen kolossalen Durchfall habe. Augenblicklich bricht mir wieder der Schweiß aus. Die Panik wächst. Das Fieberthermometer zeigt an, dass meine Temperatur auf 36,9 gestiegen ist. Es geht los.
    Das Schlimmste ist, dass ich das Testergebnis nicht vor morgen abholen kann. Bis dahin liegt einfach noch viel zu viel Zeit vor mir. Wenn ich wenigstens was zu tun hätte. Bis zu unserem Auftritt sind es noch ganze acht Stunden. Wie soll ich diese Zeit bloß überbrücken?
    Ich gehe noch einmal unter die Dusche, putze mir die Zähne, verbringe ganze zehn Minuten damit, die Aufschrift auf der Zahnpastatube Lacalut Brilliant White zu studieren. Der deutsche Hersteller verspricht gründliche und schonende Entfernung von allen bakteriellen Belägen. Vielleicht sollte ich meinen Schwanz damit putzen?
    Zwei Stunden vertrödele ich mit irgendwelchem Quatsch: Zigaretten holen, Radio hören, Fernsehen gucken und so weiter. Schließlich steige ich sogar über den Dachboden aufs Dach meines Hauses, stehe eine Viertelstunde dort rum, rauche, gehe wieder zurück in meine Wohnung. Um den Computer schleiche ich wie die Katze um den heißen Brei. Ich möchte mich vom Internet fernhalten– zu groß ist die Gefahr, auf die Sites zu geraten, die sich mit dem Endstadium befassen. Aus lauter Verzweiflung lande ich in einem Aids-Forum, suche parallel nach Geschichten über Stars, die an Aids erkrankt sind. Mich interessiert jetzt zunächst mal eines: Wie lange kann man damit leben? Freddie Mercury hat sieben Jahre durchgehalten, Nurejew weniger, Magic Johnson lebt noch. » In den letzten drei Jahren war ich ununterbrochen krank. Mein Freund unterstützt mich, wir haben sogar über Kinder nachgedacht, aber es geht mir immer schlechter und schlechter«, schreibt Natascha aus Rostow. » Nachdem ich erfahren hatte, dass ich HIV -positiv bin, ging es mir zwei Jahre lang noch ganz gut, dann begann es sich zu verschlechtern.« Twin aus Saratow. Ich fühle mich, als würde ich den Briefwechsel von Toten lesen. Nein, ich muss sofort aufhören damit, ich sterbe ja selber Stück für Stück mit.
    Ich gieße mir einen großen Dewar’s ein, leere das Glas in einem Zug, lege die DVD mit Morrisseys Life-Auftritt Who put the » M« in Manchester in den Player und knalle mich aufs Sofa.
    You have never been in love
    Until you’ve seen the stars
    Reflect in the reservoirs.
    Morrissey singt, ganz am Rande der Bühne stehend, einen Fuß auf den Monitor gesetzt. Die Kamera schwenkt durch den Saal, wo Tausende von Fans begeistert die Arme in die Höhe strecken, und mittendrin halten ein paar Leute ein weißes Plakat, auf dem steht: » Daddy, welcome back home!« Ein junger Typ aus der ersten

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