Neonträume: Roman (German Edition)
Reihe versucht auf die Bühne zu klettern. Die Leute von der Security ziehen ihn wieder herunter, aber es gelingt ihm noch, Morrisseys Hand zu fassen. Die Security-Typen schleppen ihn aus dem Saal, aber er lächelt glücklich, schwenkt die Arme und singt mit. Alle singen, alle schwenken die Arme. Eine einzige große Gemeinschaft.
Tränen steigen mir in die Augen. Das ist es, was ich will: Leid, düstere Lyrics, Tausende Seelen im Einklang, Tausende, die meine Texte auswendig mitsingen können. Konzerte, Tourneen, Studioaufnahmen… Wo sind meine vierzigtausend Fans, die » Mirkin! Mirkin!« skandieren und ein Plakat hochhalten, auf dem steht: » Who put the › M‹ in Moscow? Daddy, welcome back home!«, weil ich fünf Jahre lang von der Bildfläche verschwunden war, die ich in frei gewählter Einsamkeit in Bagdad verbracht habe, und jetzt nach Moskau zurückgekehrt bin, mit einem neuen Album im Gepäck? Was mache ich hier, wo doch meine Bestimmung eine ganz andere ist? Habe ich überhaupt noch genug Zeit?
Ich schalte den Fernseher aus, springe auf, hole mein Diktafon und beginne, wie in einem irrsinnigen Laberflash alles aus mir herauszuquatschen, was in meinem Inneren brodelt. Ein kochender Hip-Hop der Seele…
Dabei hat Ljocha doch gesagt: Lauf, verschwinde, hau ab hier! Und er hat Recht. Ich bin Künstler, kein Hausierer. Anstatt mich meinem Werk zu widmen, habe ich die Zeit damit verbracht, mich unaufhaltsam auf das Nirgendwo zuzubewegen. Ich muss als Journalist für eine angesehene Zeitung arbeiten, um mir das Image eines erfolgreichen Tunichtguts zu erwerben. Ich schreibe hochtrabende Artikel, besinge das Leben von Plastikmenschen, lasse mich bezahlen von einem aufgeblasenen, selbstverliebten Ochsen, der möchte, dass von dem Dreck, den er produziert, die ganze Welt erfährt. Ich mache absolut sinnfreie Interviews mit Leuten (Leute, die wir alle sehr gut kennen), deren einzige Leistung darin besteht, dass sie ihre minderjährigen Töchter zu einem guten Preis an einen Zuhälter verscherbelt haben, der diese wiederum zu einem noch besseren Preis an die dicksten Oligarchen des Landes weiterverscherbelt. Diese Leute können stundenlang darüber quatschen, wie man Erfolg hat und wie man so wird wie sie: Wie man sich von einem berühmten Produzenten ficken lässt, einen angesagten Dealer lutscht oder in eine allglatte Partei eintritt. Ich schreibe beschissene Artikel, die von beschissenen Leuten bezahlt werden, damit sich das gesamte übrige Publikum darauf einen runterholt und sich dabei immer wieder fragt: Bin ich schon beschissen genug, dass ich zum Helden eines solchen Artikels werden kann? Um mich herum gibt es nichts als Scheiße. Und diesen Journalismus nenne ich Scheißjournalismus. Das Problem ist nur, dass ich eigentlich gar nicht schlecht schreibe, und das Wissen darum macht mir das Leben manchmal unerträglich. Ich versuche, mich damit zu trösten, dass die Arbeit dieses Büro-Planktons noch unerträglicher ist, aber wenn das mein einziger Trost ist, kann ich mich auch gleich aufhängen. Ich könnte natürlich als Tankwart oder Lastwagenfahrer arbeiten, aber das ist bloße Theorie.
Image, Image über alles!
Aber das Image allein bringt es eben auch nicht, man braucht auch noch » die richtigen Freunde«. Ich » baue Beziehungen auf«, » kontaktiere«, » laufe über den Weg« und so weiter. Ich treibe mich mit einer Unmenge einflussreicher Leute herum, immer in der Hoffnung, dass einer von ihnen mir nützlich sein könnte, mich protegiert, mir » einen Tipp gibt«, » einen Anruf macht«, mich » vermittelt«, und so weiter. Und dann verändert sich mein Leben auf einen Schlag: Man setzt mich auf die Liste der Top 100 der bestaussehenden Männer von Moskau oder bietet mir einen Job beim Fernsehen an oder will mich zum Chefredakteur des russischen Playboy machen oder mir eine eigene Talkshow im Radio geben. Jedenfalls bin ich plötzlich oben, und jedes, wirklich jedes Plattenlabel wird sich darum reißen, mit meiner Gruppe eine CD zu produzieren. Und wenn unser Album erscheint, kann ich mich endlich ganz offiziell Künstler nennen und mich ganz meiner schöpferischen Arbeit, meinem Werk widmen. Das heißt, ich bin ein Promi. Dummerweise sieht es so aus, als würde keiner dieser superwichtigen Leute auch nur einen Finger krummmachen, um mir zu helfen. Schon gar nicht umsonst. Weil diese Typen allesamt perverse Kinderficker sind. Ljocha hat schon recht. Aber stur wie ein Esel trete ich weiter auf
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