Neonträume: Roman (German Edition)
habe der Krankenschwester gesagt… Ich weiß nicht, dann sehe ich nur noch Nebel.« Als ich mich daran erinnere, dass ich der Krankenschwester meine HIV -Erkrankung eröffnet habe, bedeckt sich mein Körper wieder mit kaltem Schweiß.
» Du hast es der Krankenschwester gesagt?« Sie schaut mich an. » Du hattest die unglaubliche Kühnheit, der Krankenschwester zu gestehen, dass du HIV -positiv bist? Alle Achtung! Ich erkenne dich gar nicht wieder! Hast du dir plötzlich Sorgen gemacht, irgendein armseliger Loser könnte mit deinem Blut in Kontakt kommen und infiziert werden? Vergiss es! Heutzutage werden Spritzen nie zweimal verwendet. Dein Großmut war überflüssig, mein Kleiner!« Sie drückt ihre Zigarette am Tischbein aus und zündet sich sofort eine neue an.
Mich packt die Angst. Angst, wie ich sie nie im Leben empfunden habe.
» Du…« Ich schnappe nach Luft. » Woher weißt du es? Wieso bist du überhaupt hier? Was willst du?« In dem Moment geht mir ein Licht auf. Vor Wut stockt mir der Atem. » Hast du mich verfolgt? Hast du mich etwa verfolgt?«
» Werd bloß nicht hysterisch«, sagt sie kalt. Ihre Augen glänzen jetzt nicht mehr. Das war tatsächlich nur Einbildung.
» Und wozu? Was soll das? Warum, verdammte Scheiße, spionierst du mir nach? Weißt du, was mit mir passiert ist? Bist du hier, um dich über mich lustig zu machen? Ja, ich bin HIV -positiv, aber ich habe keine Angst, das zuzugeben. Es ist mir scheißegal! Ich habe vor überhaupt nichts mehr Angst.« Die Tränen laufen mir übers Gesicht, und ich mache nicht den Versuch, es zu verbergen. » Was willst du? Willst du dabei zugucken, wie ich verrecke? Geilt dich das auf?« Wieder versuche ich mich aufzurichten, aber es gelingt mir nicht.
Vor lauter Hilflosigkeit ergreift mich ein heftiger Anfall von Selbstmitleid. Ich liege auf meinem Kissen, recke das Kinn in die Höhe und schluchze hemmungslos.
» Du bist ein richtiges Kind. Ein kleines, verwöhntes Kind. Ein hübscher Junge, aber sehr unartig.« Sie steht auf, geht wieder zum Fenster, zieht die Vorhänge auf und erstarrt, die Hände auf die Fensterbank gestützt. » Jetzt finde ich es direkt komisch, dass ich dich einmal besinnungslos geliebt habe. Seltsam. Ich habe dir damals alles verziehen– deine Hysterie, deine überdrehte Fantasie, deine Faulheit, deine pathologische Egomanie. Ich habe einfach darüber hinweggesehen.«
» Das ist alles so lange her.« Ich liege mit geschlossenen Augen und versuche, wenigstens irgendetwas zu meiner Verteidigung vorzubringen, doch es kommt nur lauter Unsinn heraus. Aber Olga hört anscheinend sowieso nicht zu.
» Seltsam, meinem Mann verzeihe ich heute nicht ein Zehntel von dem, was ich dir damals verziehen habe. Ich habe dich einfach geliebt. Aber was spielt das jetzt noch für eine Rolle?«
» Du bist verheiratet? Schon lange?«
Bleib ruhig, bleib ganz ruhig! Reiß dich zusammen! Sie hat ja nicht vor, dich zu ermorden, rede ich mir zu. Aber die Panik hat mich fest in ihren Klauen. Ich habe solchen Schiss, dass ich Olga bitte, die Krankenschwester zu rufen.
» Sie ist weg.« Olga setzt sich wieder auf den Stuhl an meinem Bett und führt ihren Monolog fort. » Sogar an dem Tag, als du mir sagtest, dass du kein Kind willst, habe ich immer noch weiter Pläne geschmiedet. So eine dumme Gans war ich, kannst du dir das vorstellen?«
Eine Träne rinnt über ihre Wange. Diesmal ist es ganz sicher keine Einbildung. Aber das lässt meine Angst nur noch größer werden. Ich möchte weglaufen, aus dem Fenster springen, mich in Luft auflösen.
» Und dann bist du verschwunden. Von einem Tag auf den anderen. Einfach weg. Einfach nicht mehr da. Du bist nicht mehr ans Telefon gegangen, warst in deiner Wohnung nicht mehr anzutreffen, es hieß, du habest Petersburg verlassen. Aber das stimmte gar nicht, hab ich recht, Andrej? Du hast einfach eine Weile in der Datscha deines Vaters gelebt, habe ich recht?«
» Ich… Ich erinnere mich nicht. Das kam für mich damals alles so… so unerwartet, verstehst du? Für dich doch auch!«
» Du meinst, es war nicht der richtige Zeitpunkt, oder wie? Und ich dachte aus irgendeinem dummen Grund, ein Kind komme immer zum richtigen Zeitpunkt. Aber, wie die Realität mir gezeigt hat, war das ein Irrtum. Wir beide lebten einfach in verschiedenen Welten. Ich meiner Welt gab es dich, unser Kind und mich. In deiner Welt dagegen gab es dich, und nur dich. Dann vielleicht noch ein paar Freunde, ein paar nette Bräute… Sonst
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