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Neonträume: Roman (German Edition)

Neonträume: Roman (German Edition)

Titel: Neonträume: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Minajew
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Sehnsucht und Trauer schimmern. In dieser Einstellung sieht sie aus wie eine teure Porzellanpuppe aus Deutschland, die ihren Lebensabend wider Willen in der Sowjetunion verbringen muss.
    » Die Intelligenzija, ja, scheiße«, sagt ein Mann am Nachbartisch. » Erst schreiben sie irgendwelchen Mist, und dann setzen sie sich vor die Kamera, vergießen Krokodilstränen und bereuen ihren Quatsch!«
    Ich drehe mich zur Seite: Tweedsakko, graue Hose aus festem Stoff, Brille– ein Verleger, ein gut bezahlter Journalist oder ein Regisseur.
    » Ich bitte um Verzeihung«, sagt er, als er bemerkt, dass ich ihn ansehe.
    » Alles okay«, grinse ich.
    » Ich kann einfach diese Heuchelei nicht mehr ertragen. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich umschalte?«
    » Aber nein, bitte sehr!«, sage ich schulterzuckend.
    Auf dem nächsten Sender läuft ein Bericht über Angelina Jolie, die mit routiniert kummervollem und opferbereitem Gesichtsausdruck Geld für arme Negerkinder und andere Opfer kriegerischer Konflikte sammelt. Hingebungsvoll plappert sie über ihre wilde Jugendzeit, über die zahlreichen Dummheiten, die sie damals begangen hat, und wie sehr sie das jetzt bereut, und dass sie versucht, andere Menschen davor zu bewahren. Die Schauspielerin sitzt vor Hunderten von Fernsehkameras, in der einen Hand ein Mikrofon, an der anderen Hand ein kleines Negerkind.
    » Anscheinend haben wir heute den internationalen Buß-und-Reue-Tag!«, kommentiert der Mann.
    » Haben Sie etwas gegen Wohltätigkeit?«, frage ich.
    » Ich?« Der Typ rückt seine Brille zurecht. Er ist nicht weniger betrunken als ich. » Nein, ich habe überhaupt nichts gegen Wohltätigkeit. Im Gegenteil, ich halte sehr viel davon, vor allem wenn sie nicht streunenden Hunden zugutekommt, sondern anderen Menschen. Ich meine etwas anderes.«
    » Und das wäre?«
    » Ich frage mich, warum man sich erst mit Kokain, Ecstasy oder was weiß ich für Kram vollpumpen muss, bis die Leute denken, man hätte nicht nur Lippen, sondern auch Augen aus Silikon? Warum muss man erst durch sämtliche Gazetten rauschen, sich in allen nur erdenklichen Posen ablichten lassen, nur um sein Billy-Bob-Tattoo vorzeigen zu können?« Der Typ kommt immer mehr in Rage. Das Thema Reue scheint ihm echt nahezugehen. » Warum muss man erst Chefredakteur einer lausigen Illustrierten werden, um dann über Moral und über Gott zu diskutieren? Können Sie mir das erklären, junger Mann?«
    » Vielleicht bereuen sie’s ja wirklich?«, schlage ich vor.
    » Sie meinen, ohne eine sündhafte Vergangenheit kann man nicht zu echter Einsicht gelangen? Oder echte Anteilnahme für das Schicksal anderer Menschen empfinden?«
    » Na ja, ich meine Selbsterkenntnis oder sowas in der Art«, bemerke ich lahm.
    » Und wozu soll diese Selbsterkenntnis gut sein? Damit man sich dann in allen möglichen Charity-Foren den Hintern breit sitzt und wie eine runzlige Kröte über Moral quakt, wobei man natürlich nicht vergisst, mit Weltschmerzaugen in die anwesenden Kameraobjektive zu gucken.« Der Typ gießt sich Wodka nach und starrt mich intensiv an. » Ich frage mich nur, woher diese Leute ihre Weltschmerzaugen eigentlich haben: weil sie immerzu an die armen afrikanischen Kinder denken, oder weil ihre Jugend dahinschwindet, schneller als ein japanischer High-Speed-Train an einem vorbeizischt.«
    » Tja, gute Frage«, sage ich und schaue auf den Bildschirm. Aber Angelina Jolie ist leider nicht mehr zu sehen. » Wahrscheinlich haben Sie recht. Aber wissen Sie, zurzeit richtet sich alles und jeder ausschließlich nach den Gesetzen des Selbstmarketing.« Diese Bemerkung scheint mir ziemlich tiefsinnig.
    » Selbstmarketing? Gut möglich.« Der Typ nimmt eine Zigarette aus der Packung und klopft mit dem Filter auf die Tischplatte. » Aber vielleicht ist es auch nur eine Alterserscheinung? Beziehungsweise die Furcht vor dem Alter, das uns trostlos und grau hinter der nächsten Ecke erwartet? Die Angst vor jener Party, bei der es keine Paparazzi, keine Kameras, keine Journalisten gibt, nicht einmal Dealer oder andere Promis? Die Party, für die man sich in Reinheit kleiden möchte?«
    » Sie meinen damit den Tod?«, frage ich zaghaft.
    » Sagen Sie, empfinden Sie manchmal Reue über Ihr vergangenes Leben?«, begegnet er meiner Frage mit einer Gegenfrage.
    » Doch, oft«, antworte ich ehrlich. » Gerade im Augenblick bereue ich vieles.«
    » Soll ich Ihnen etwas sagen?« Der Typ zündet die Zigarette an.
    » Hier ist Nichtraucher!«, ruft

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