Nephilim

außer Zweifel, dass er die Geräusche der Fliehenden hören würde, sobald er näher kam.
    Es gibt Dinge, die man tun muss , flüsterte Silas’ Stimme neben Nandos Ohr, so klar und deutlich, als wäre sie wirklich da. Nando hob den Kopf, als hätten diese Worte ihm einen Schlag versetzt, und sprengte den Panzer aus Furcht, der sich mit lähmender Kälte um seine Schultern schließen wollte.
    Da draußen , erwiderte er in Gedanken, gibt es wichtigere Dinge als Angst und Zweifel. Es sollte immer wichtigere Dinge geben als das.
    Damit stieß er sich vom Fenster ab und trat durch die Tür. Mit ruhigen Schritten ging er hinaus auf die Straße, legte die rechte Hand auf sein Schwert und schaute den Engeln entgegen. Sein Atem ging stoßweise, es kostete ihn seine gesamte Kraft, den Blick nicht abzuwenden. Wieder spürte er die Furcht, die sich in seinen Nacken setzen wollte, aber er hob den Blick und erlaubte ihr nicht, sich niederzulassen.
    Schritt für Schritt kam Avartos näher, doch Nando zwang Silas’ Worte in seine Gedanken zurück, und er hörte auch Drengur, der mit ruhiger Stimme zu ihm sprach. Du hast dich dem Fürsten der Hölle widersetzt . Du bist stärker, als du denkst. Es wird Zeit, dass du das begreifst. Er ballte die metallene Faust und trat einen Schritt vor. Niemals würde er vor diesem Wesen auf die Knie fallen, vor dieser Schreckgestalt aus Sehnsucht und Eis. Kaum hatte er diesen Schritt getan, blieb Avartos stehen. Kurz maßen sie einander mit den Blicken, dann hob Avartos die Hand und schickte einen der Engel die Straße hinab, den anderen in einen langgezogenen Wohnungskomplex, der zu seiner Rechten lag. Nando bemühte sich nach Kräften, sich nichts anmerken zu lassen. Wenn alles gut gegangen war, mussten Noemi und die anderen nun bereits in einem Tunnel sein, der sie aus der Siedlung hinausführen würde. Doch noch waren sie nicht in Sicherheit.
    Avartos ließ seinen Blick über Nando gleiten, vom Kopf bis zur Sohle, und lächelte voller Hohn. »Du siehst noch genauso mickrig und verweichlicht aus wie bei unserer ersten Begegnung«, stellte er fest und trommelte leicht mit den Fingern auf das Heft seines Schwertes. »Es erwächst weder Ruhm noch Ehre aus der Tatsache, einen Schwächling wie dich erlegt zu haben, ganz gleich, ob du dich Teufelssohn schimpfst oder nicht.«
    »Ich wusste nicht, dass ein Engel eine Vorstellung hat von Ruhm oder Ehre«, erwiderte Nando und stellte zu seiner Befriedigung fest, dass er zwar einen Großteil seiner Kraft brauchte, um seine rechte Hand am Zittern zu hindern, aber gleichzeitig mit einer Verachtung in der Stimme sprechen konnte, die eine Falte zwischen Avartos’ Brauen verursachte. »Bisher kam es mir so vor, als wäret ihr nichts als Maschinen, ohne Emotionen und vor allem ohne Gewissen.«
    Avartos hob abschätzig die Brauen. »Ein armseliger Halbmensch, wie du es bist, wird niemals begreifen, welche Sphären wir Engel in jedem Augenblick unseres Daseins durchschreiten – Ebenen höchsten Glanzes, in denen dein Gefühl und deine Moral wie Trugbilder erscheinen angesichts dessen, was wir sind. Denn wir, Teufelssohn, sind das Licht, wir sind die Sonne und der Morgen.«
    Nando verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Das klingt nach erheblicher Selbstüberschätzung. Stehe ich einem Engel gegenüber, der Gott verloren hat? Oder seid Ihr ein Engel, der Gott nie kannte?«
    Ein Schatten legte sich auf Avartos’ Gesicht und versteinerte seine Züge, doch als er sprach, hörte Nando den Zorn in seiner Stimme. »Du bist es nicht wert, dass ich mit dir über dergleichen Dinge spreche. Um genau zu sein, bist du es nicht einmal wert, dass ich überhaupt mit dir rede. Doch seien wir ehrlich: Du willst nicht sterben. Du klammerst dich an deine armselige Existenz, krallst deine Finger in ihr vermoderndes Fleisch und weinst bittere Tränen, je mehr sie dir entgleitet. Ich habe dich gefangen, ich werde dich töten, wie es dein Schicksal ist als Sohn des Teufels, der du bist. Oder … « Er hielt inne, und Nando konnte nicht verhindern, dass sein Herz ein wenig schneller schlug. »Oder du kannst weiterleben. Ich werde deine Magie bannen, selbstverständlich, und dich in die Welt der Menschen zurückschicken als das, was du bist: ein armseliger, belangloser Wurm. Alles, was du tun musst, ist eine Kleinigkeit. Nennen wir es eine Gefälligkeit für die Großzügigkeit meinerseits, dich am Leben zu lassen.«
    Nando umfasste den Griff seines Schwertes fester, als er aus den