Nephilim
Ausbildung bislang stets in seinem Zimmer gelernt, da er die feindlichen Blicke der anderen Nephilim nicht ertragen wollte. Doch die Kunde von seinem Kampf gegen Avartos hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und es schien ihm, als hätte dieser mehr bewirkt als die Rettung einiger Novizen. Noch war es ein Ahnen, ein Flüstern hinter vorgehaltenen Händen, doch der Schleier aus Kälte zog sich von den Gesichtern der anderen Schüler zurück, und auch wenn er noch immer allein an seinem Tisch saß, schien sich niemand daran zu stören, dass er es gewagt hatte, der Stille seines Zimmers zu entfliehen und wie die anderen in der Bibliothek zu lernen. Nur Noemi sah Nando in all der Zeit, da er sich unter den Novizen aufhielt, kein einziges Mal.
Antonio hatte ihm einen dicken Ordner mit Formeln zusammengestellt, und nur allzu häufig fühlten sich seine Augen nach einem Tag des Lernens an wie Walnüsse. Sein Nacken schmerzte, als würden sich Drahtseile durch sein Fleisch ziehen, und schon nach wenigen Tagen begann er, von den Formeln zu träumen, die er tagsüber vor sich sah. Sie formten sich zu imposanten Drachen aus Flammen und wollten ihn fressen, oder sie fielen in sich zusammen wie Figuren aus Sand, während er verzweifelt versuchte sie festzuhalten. Doch trotz des hohen Lernpensums genoss Nando die Tage in der Bibliothek. Er übte seine Formeln, las Legenden vom Donner der Ersten Zeit, der Gebirge aus dem Boden gestampft und Kontinente auseinandergerissen haben sollte, lernte mehr über die Geschichte der Nephilim und die glanzvollen Ritter Bantoryns und vertiefte sich in die Heldengeschichten von Hadros, dem mächtigsten Engelskrieger und Dämonenjäger aller Zeiten, der einst den grausamen Hexenmeister Askramar bezwang und zahlreiche Engel vor dem sicheren Fall in die Finsternis bewahrte. Kaya tat ihr Bestes, um Nando während seiner Pausen mit kleinen Späßen zu unterhalten, und mitunter schaute Morpheus vorbei, blickte mit angewidertem Gesicht auf die Reihen aus Büchern und schüttelte den Kopf angesichts all des unnützen Krams, den Antonio für die Prüfung von seinen Schützlingen verlangte.
Vereinzelt hörte Nando von den Geschehnissen außerhalb Bantoryns, besonders von der zunehmenden Präsenz der Engel, die immer verzweifelter nach dem Teufelssohn zu suchen schienen, der sich vor ihnen verbarg. Mitunter setzte Antonio sich zu ihm und sprach mit ihm über verwundete Ritter und Nephilim, die beinahe den Engeln in die Hände gefallen wären. Es war eine gefährliche Zeit für alle Bewohner Bantoryns, das wusste Nando, und er wusste auch, dass sich daran kaum etwas ändern würde, wenn er Bhrorok erst besiegt hätte und ohne seine magischen Kräfte in die Oberwelt zurückgekehrt wäre. Die Nephilim würden für immer verfolgt und getötet werden, das stand außer Zweifel, und mitunter, wenn Nando mit Antonio darüber sprach, verschleierte sich der Blick des Engels, und er sah Nando auf eine Weise an, als würde er in ihm zu lesen versuchen wie in einem Buch, das in einer ihm fremden Sprache geschrieben war. In diesen Momenten schien es Nando oft, als würde Antonio kurz davorstehen, ihm ein Geheimnis anzuvertrauen, etwas, das er bislang für sich behalten hatte und das nur auf den richtigen Zeitpunkt wartete, um enthüllt zu werden. Doch stets holte Antonio im letzten Augenblick tief Atem, schickte ein Lächeln in seine schwarzgoldenen Augen und schüttelte langsam und nachdenklich den Kopf.
So vergingen die Tage, bis eines Morgens Unruhe unter den Novizen ausbrach. Am Abend, so lautete das Gerücht, das sich wie ein Lauffeuer unter ihnen verbreitete, würde sie beginnen: die Fahrt in die Sümpfe der Schatten.
Nando bemühte sich in den folgenden Stunden vergeblich, sich auf seine Formeln zu konzentrieren, und war beinahe erleichtert, als Antonio mit Drengur in die Bibliothek kam und sämtliche Novizen aufforderte, ihnen hinab zum Schwarzen Fluss zu folgen.
Dort hatten sich bereits etliche Novizen versammelt, und Nando meinte, das pechschwarze Haar Noemis in der Menge aufflammen zu sehen. Doch gleich darauf wurde seine Aufmerksamkeit von den Sumpfbooten abgelenkt, die nun den Fluss hinaufkamen. Mehrere Ritter der Garde steuerten die Amphibienfahrzeuge. Sie bestanden aus dunkelbraunem Holz, nur die heckseitig montierten Luftpropeller und die für deren Antrieb nötigen, daruntersitzenden Laskantinkapseln wurden von glänzendem Kupfer eingefasst. Der für gewöhnlich ohrenbetäubende Lärm der
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