Nephilim
die rings um seinen Teller verteilt lagen. Er sah den Bilderrahmen aus dem Augenwinkel, er stand dicht neben seinem Wasserglas. Das ganze Jahr über hing dieses Bild im Flur links neben der Eingangstür, und jedes Mal warf Nando ihm einen Blick zu, ehe er die Wohnung verließ. Dennoch versetzte es ihm einen Stich, als er nun den Kopf hob und seine Eltern ansah. Seine Mutter mit ihrem langen, schwarzen Haar und den Grübchen in den Wangen, weil sie auf dem Foto so herzlich lachte. Sein Vater, der sich darum bemühte, ernst zu schauen, dessen Haare jedoch wie bei einem kleinen Jungen in alle Richtungen von seinem Kopf abstanden und der seine Frau im Arm hielt wie ein kostbares Kleinod. Es war ihr Hochzeitsbild, zwei Jahre später war Nando geboren worden, er erinnerte sich an die Fotos, auf denen er als kleines Kind mit seinen Eltern abgebildet war. Du bist etwas Besonderes , raunte Antonios Stimme durch seine Gedanken und ließ Nando die rechte Faust ballen. Für einen Moment meinte er, Flammen hinter dem Glas des Rahmens auflodern zu sehen, er hörte sie flackern und spürte die Hitze auf seiner Haut. Langsam zog er den linken Arm an seine Brust, seine Haut brannte, als wären Rasierklingen darüber hingerast.
»Sie wären stolz, dich jetzt zu sehen«, sagte Mara leise und unterbrach Nandos Gedanken. Sie stand neben dem Tisch, stellte den Topf mit dem abscheulich riechenden Inhalt zurück auf den Herd und setzte sich. Nando riss seinen Blick vom Foto seiner Eltern los und schaute in ihre Augen, die braun waren wie weiches Karamell und ihr Gesicht strahlen ließen, wenn sie lächelte, wie sie es jetzt tat.
»Jedes Jahr sagst du mir das«, erwiderte er und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme kalt klang und verächtlich.
Giovanni stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab und beugte sich vor. Empörung stand in seinen Augen, aber er öffnete nur kurz den Mund und schloss ihn gleich wieder, als wollte er Nando etwas sagen, ohne die passenden Worte dafür zu finden. Da griff Mara nach seinem vernarbten Arm. Ihre Finger schlossen sich um seine Hand, ein wenig zu fest, sodass es ihm wehtat, doch er zog sie nicht zurück. Zorn flackerte in Maras Blick, als sie ihm in die Augen sah, und er hielt den Atem an.
»Jedes Jahr sage ich dir das«, erwiderte sie, und die Wärme in ihrer Stimme stand in merkwürdigem Kontrast zu dem strengen Ausdruck auf ihren Zügen. »Jedes Jahr sage ich dir, dass meine Schwester umkommen würde vor Stolz, wenn ich ihr beschreiben könnte, zu was für einem empfindsamen und willensstarken jungen Menschen du geworden bist, einem Menschen, der nicht zerbricht im Angesicht der Schönheit und der Traurigkeit der Welt, einem Menschen, der für andere einsteht, weil er einfach nicht anders kann, einem Menschen, der nachts auf seiner Geige spielt, heimlich und in dem Glauben, dass niemand ihn hört, und der doch mit jedem Ton den Mond zum Erblassen bringen kann. Ich weiß, was dein Vater sehen würde, wenn er einen Augenblick in dieser Küche bei uns sein könnte: Er würde einen Menschen sehen, der seinen Weg gehen wird, ganz gleich, welche Hürden er dafür meistern muss – einen Menschen, der stark ist.«
Nando erwiderte ihren Blick, und für einen Moment meinte er, das Lachen seiner Mutter zu hören und die leise, ruhige Stimme seines Vaters. Nach ihrem Tod hatte man ihm gesagt, dass die Zeit die Sehnsucht nach ihnen verringern und den Schmerz mildern würde. Doch das war eine Lüge gewesen. Die Zeit hatte nichts leichter gemacht, sie hatte seine Sehnsucht und seinen Schmerz nur zu einem Teil seines Lebens werden lassen, der wie das Rauschen eines Flusses ständig in seinem Inneren toste und nur manchmal, in Momenten wie diesem, über die Ufer trat. Das Brennen glitt erneut über Nandos Arm, und er zog seine Hand zurück.
»Nicht stark genug«, flüsterte er, doch seine Stimme ging im schrillen Läuten der Türklingel unter. Er fuhr zusammen, und gleichzeitig zerriss das trübe Tuch aus Erinnerung, das sich über ihn gelegt hatte. Mara sprang auf und nahm den Topf vom Herd, um eine grünflockige Suppe in vier Schalen zu geben, was Giovanni mit missmutigem Gesicht beobachtete, und Nando ging zur Tür.
Luca trug einen etwas zu groß geratenen Anzug und war nass bis auf die Knochen. Sein schwarzes, lockiges Haar hing ihm in die Stirn, und seine Kleidung klebte an seinem Körper, als wäre er in einen Monsun geraten. Er war ein wenig kleiner als Nando und so dünn, dass er meist für
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