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Nephilim

Nephilim

Titel: Nephilim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
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überrascht sein, es ist das Übliche, so scheint es mir.«
    Sie zog einen kleinen Karton aus ihrer Tasche und überreichte ihn Nando, der rasch den Deckel anhob. Darin lagen gepresste Blätter, winzige, zu kleinen Figuren geformte Metalldrähte und schriftliche Glückwünsche auf Zetteln und Papierschnipseln. Nando strich mit dem Finger über den Deckel des Kartons, als er ihn wieder schloss. »Ich danke dir«, sagte er mit einem Lächeln und hätte Ellie gern umarmt, wenn er nicht gewusst hätte, dass sie körperliche Nähe nicht ertrug. »Es bedeutet mir viel, dass ihr an mich denkt, bitte sag das den anderen. Ich verstehe, dass sie bei diesem Wetter nicht kommen konnten, sie sollen sich keine Gedanken machen, das … «
    Etwas in Ellies Blick ließ ihn innehalten, eine Atemlosigkeit mit der Eindringlichkeit einer Zauberpforte, die nur darauf wartete, dass er die richtige Losung sprach, um sich zu öffnen. Er hörte leises Lachen und die Stimmen von Mara, Giovanni und Luca aus der Küche zu ihnen dringen, und für einen Moment wollte er nichts weiter, als die Tür zu schließen vor dem, was in diesem dunklen Treppenhaus auf ihn wartete, und zurück ins Warme zu treten. Er kannte die Stille, die sich nun mit grausamer Kälte auf seine Stirn legte, kannte die Klaue, die sich um seinen Brustkorb schloss und ihm das Atmen schwer machte. Seit Jahren kamen die Obdachlosen des Viertels am kommenden Nachmittag zu seinem Geburtstag, nie hatten sie eine Ausnahme gemacht.
    »Ellie«, sagte er und hörte, dass er auf einmal heiser war. »Wo sind die anderen?«
    Sie sah ihn an, ein seltsamer Glanz lag in ihren Augen. »Sie sind im Hof Neun«, erwiderte sie kaum hörbar.
    Nando wusste, dass es sich dabei um einen alten Keller in einem Abrisshaus handelte. Niemand schlief darin, niemand lebte dort. Dieser Keller diente der Trauer. Er war ein Abschiedsraum. Die Erkenntnis kroch mit eisigen Fühlern über die Treppe aufwärts. Nando fühlte, wie sie seine Beine emporglitt und sich mit boshafter Tücke um seine Kehle legte. »Wer?«, flüsterte er.
    Da griff Ellie in eine ihrer Plastiktüten, und noch ehe Nando den Geigenkasten sah, wusste er, um wen es sich handelte.
    »Enzo«, sagte er, und der Name hallte im Treppenhaus wider wie ein Schuss.
    Ellie nickte schweigend. »Wir wissen nicht, wie es passiert ist«, sagte sie, ohne seinen Blick loszulassen. »Passanten haben ihn gefunden, tot in seiner Gasse und barfuß. Seine Geige war zerbrochen, er muss sich gewehrt haben. Wir glauben, dass es Hass war, der ihn getötet hat. Es ist oft passiert, das weißt du, niemand schert sich um uns. Aber seit langer Zeit hat es keinen mehr von uns getroffen. Bis jetzt.«
    Sie trat auf Nando zu, bis sie dicht vor ihm stand. Das Licht aus der Wohnung fiel auf ihr Gesicht, sie blinzelte, als wäre sie so viel Helligkeit nicht mehr gewohnt, doch dann wurde ihre Miene weich, fast zart, und Nando konnte sehen, wie sie einmal ausgesehen hatte, damals in ihrem anderen Leben. Diese Frau steckte noch immer in ihr, doch nun war sie frei, und sie zeigte sich nur noch manchmal – wie ein Blatt, das unter der dicken Eisschicht eines Sees dahintreibt.
    »Er wollte, dass du sie bekommst«, sagte sie und hielt ihm den Geigenkasten entgegen. Tränen traten in ihre Augen, sie glänzten im Schein des Lichts. » Wenn mir einmal etwas zustößt , so sagte er zu mir, dann soll meine Geige bei Nando zu Hause sein . Ich erinnere mich gut daran, wie ihr zusammen gespielt habt.«
    Nando spürte die Kälte des Geigenkastens wie einen elektrischen Impuls über seine Haut flackern und schauderte. Da legte Ellie ihre Finger auf seine narbenübersäte Hand. Sie waren warm. »Es ist gut, dass es dich gibt, Nando«, sagte sie ernst. »Von jedem Einzelnen von uns soll ich dir das sagen – es ist gut, dass es Menschen gibt, die uns sehen. Die uns wirklich sehen, verstehst du?«
    Sie hielt kurz inne. »Enzo erzählte mir davon, dass du ihn in seiner Gasse besucht hast. Er erzählte mir von deiner Musik. Sie hat ihn glücklich gemacht, Nando. Sehr, sehr glücklich.«
    Sie zog ihre Hand zurück und lächelte noch einmal. Dann wandte sie sich ab und ging die Treppe hinunter, so lautlos und sicher, als könnte sie im Dunkeln sehen.
    Kaum war sie aus Nandos Blickfeld verschwunden, überkam ihn ein Schwindel, der ihn dazu brachte, sich auf die oberste Stufe zu setzen. Die Tür schlug unten gegen das Holzstück, und er war allein. Er öffnete den Geigenkasten und erschrak, als er im

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