Nephilim
heraufkommen. Noemi hielt einen weiteren Zauber im Handgelenk, ihr Gesicht war nichts mehr als eine Maske der Ablehnung.
Paolo wich kreidebleich zurück, Blut rann aus der Wunde in seiner Schulter. »Was soll das?«, kreischte er außer sich. »Ist der Teufelssohn auf einmal dein bester Freund? Hast du vergessen, dass du ihn am liebsten umgebracht hättest, ja, dass du sogar schon kurz davorstandest? Hast du vergessen, dass sein Vorgänger deinen Vater umgebracht hat, dass seinetwegen die Nephilim verfolgt werden und Silas gestorben ist, dass wir alle frei sein könnten, wenn … «
»Hör auf«, sagte Noemi, und ihre Stimme war so kalt, dass Paolo tatsächlich verstummte. »Du hast nichts begriffen, Paolo, gar nichts. Ich war erfüllt von Zorn und Trauer, und ich bin es noch. Aber ich habe viel gelernt in den vergangenen Wochen. Ich habe gelernt, dass mein Weg der falsche war – und du solltest das auch erkennen!«
Paolo stierte sie an, dann glitt sein Blick über die anderen Novizen, die sich neben Nando aufbauten.
»Ihr seid Narren«, brachte er hervor. »Bhrorok hat uns ein Angebot gemacht, keiner von uns war klug genug, es anzunehmen! Aber ihr werdet sehen, wohin der Teufelssohn euch bringen wird, und dann werdet ihr bereuen, dass ihr so blind wart!«
»Ich werde Antonio alles erzählen«, erwiderte Noemi mit frostiger Ruhe. »Und dann werden wir sehen, wer Reue zeigen wird.«
Paolo rührte sich nicht. Es war, als hätten diese Worte ihm die Luft abgedrückt. Er starrte Noemi an, Schmerz und Zorn flammten über sein Gesicht. Dann wandte er sich Nando zu, seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Gleich darauf warf er sich herum, breitete die Schwingen aus und verschwand, ehe ihn jemand hätte aufhalten können.
Riccardo ballte die Fäuste. »So einfach entkommst du mir nicht«, murmelte er und glitt Paolo lautlos nach.
Noemi atmete aus. »Er war … «, begann sie, doch da packte Nando ihren Arm und brachte sie zum Schweigen. Instinktiv hatte er das getan, aufgrund einer Regung in der Luft, einer kaum merklichen Trübung des immer lichter werdenden Nebels. Angespannt ließ er seinen Blick über die Gasse schweifen und schaute hinauf zu den Dächern.
»Wir müssen verschwinden«, sagte er leise. »Ich … «
Weiter kam er nicht. Im nächsten Moment ertönte ein Geräusch wie der Schrei eines verwundeten Tieres. Durchdringend und klar hallte er über die Dächer, sein Ursprung war ganz in der Nähe. Nando spürte Noemis Blick, atemlos fuhr er herum.
»Schnell!«, raunte er und breitete die Schwingen aus. »Flieht, so schnell ihr könnt!«
Ohne ein Wort folgten ihm die anderen, und kaum dass sie über die Straße hinwegglitten, erklang erneut der Schrei, der Nando das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Es war der todbringende, grausame Ruf eines Wolfs.
35
Avartos ließ seinen Bogen sinken. Das Heulen des Wolfs umtoste ihn wie sturmgepeitschte Wellen, doch er rührte sich nicht. Regungslos wie eine steinerne Statue hockte er auf dem Schornstein eines heruntergekommenen Hauses und sah zu, wie der Körper des Ovo langsam zerfiel.
Die Nephilim waren ihm entkommen, wieder einmal. Dabei war sein Plan gut gewesen. Er hatte den Nebel der Ovo überwachen lassen, jenen Dunst, den kein Engel ohne Gefahr für sein Leben betreten durfte, und er hatte mit Interesse beobachtet, wie ein Ausläufer dieses Nebels bis hinauf zum Blumenmarkt gekrochen war. Lautlos war er dem Instinkt des Jägers gefolgt, hatte sich am Rand dieses Nebelstücks niedergelassen und darauf gewartet, dass ein Nephilim in seine Nähe kam. Das war bereits bei früheren Prüfungen ein paarmal vorgekommen, und mitunter war es seinen Rekruten gelungen, sie mit plötzlichen Donnerzaubern aus dem Nebel herauszujagen. Doch stattdessen hatte er das lächerliche Gespräch zwischen dem Teufelssohn und dem Nephilim mit den Schweinsaugen mit anhören müssen und darauf gewartet, dass der Nebel vollständig verschwinden und ihm einen Zugriff erlauben würde. Dieser verfluchte Nebel der Ovo, dieser Geister der Vergangenheit, hatte alles zunichtegemacht. In früheren Tagen hätte kein Engel Schwierigkeiten damit gehabt, den Nebel zu betreten, im Gegenteil. Sämtliche Engel hatten sich einst per Blutsbund mit den Ovo verbunden als Zeichen für ihre gemeinsamen Ziele: Frieden zwischen den Völkern und eine Welt in Gleichgewicht und Balance. Avartos erinnerte sich schemenhaft an seine Zeit als junger Engel, daran, wie er mit seinem Vater durch den Nebel
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