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Nephilim

Nephilim

Titel: Nephilim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
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wurden, entfesselte Natur, die über Fabrikschlote fegte und sie mit sich riss, verhungernde Kinder und Gesichter aus Neid und Gier, und da ihre Herzen im Gleichklang schlugen, spürte er, dass das Galkry jedes dieser Bilder gesehen hatte, dass es davon durchdrungen wurde und nur deswegen in Nacht und Finsternis lebte: um nicht von ihrer kreischenden Helligkeit zerrissen zu werden. In diesem Moment, da Nando dem Galkry entgegenblickte, spürte er, was dieses Wesen empfand, mehr als das: Er wurde selbst zu einem Galkry, zu einem Ovo, zu Licht und zu Schatten, und er verstand bis ins tiefste Innere seines Selbst, dass die Welt ein gewaltiges Konstrukt war aus widerstreitenden Kräften, ein Kunstwerk, das nur funktionierte, solange diese Mächte sich gegenseitig auf ihren Bahnen hielten und sich als das akzeptierten, was sie waren. Die Welt brach auseinander, wenn das Gleichgewicht zwischen diesen Polen nicht gewahrt wurde. Nicht nur die äußere Welt, die unter der Gier der Menschen, dem Zorn der Dämonen, der Furcht der Engel zerrieben wurde, sondern auch jede einzelne innere Welt, jeder Kosmos in jedem lebendigen Geschöpf, der nur dann in Gesundheit und Frieden existieren konnte, wenn er es nicht verlernte, diesen Klang zu hören, der Nando nun bis in die letzten Fasern seines Körpers durchdrang und ihn mit der Welt verschmolz. Manchmal, so hatte ihm Antonio gesagt , kannst du diesen Herzschlag fühlen. Und immer, wenn das geschieht, ist ein Ovo in deiner Nähe. Nando schaute in die Augen des Galkry, das milchige Weiß wich einem tiefen Blau, und er fügte in Gedanken hinzu: Oder sein Zwilling aus Dunkelheit.
    Das Galkry sah ihn an, schweigend und wie erstarrt, und Nando erwiderte den Blick in diese Augen, die nichts mehr waren als Nacht und Sterne. Niemals, das wusste er, würde er die Hand erheben gegen dieses Geschöpf. In diesem Moment, da Nando am Boden lag und das Galkry auf ihn herabsah, ohne dass einer von ihnen den Blick geneigt hätte, kannten sie einander durch und durch. Und als würde ein Schleier von der Gestalt des Galkry fallen, glitt der Schatten zu Boden, die Finsternis verschwand – und vor Nando, genau dort, wo gerade noch das Wesen aus Schatten und Dunkelheit gestanden hatte, erhob sich Olvryon, der Herr der Ovo.
    Nando spürte, wie dieser mit einem einzigen Wimpernschlag in seine Gedanken eindrang, und zugleich schien es ihm, als würde auch er einen Blick in Olvryons Träume werfen können, in seine Gedanken, seine Wünsche. Er erkannte, dass die Schattenwelt der Schwarze Fluss war in Bantoryn, die goldenen Lichter der Engelsstadt Nhor’ Kharadhin über den Dächern von Rom und die Gesänge der Ovo, und er sah, dass sie noch mehr war: Die Schattenwelt war alles. Sie war Mara, sie war Giovanni und Luca, ihre Träume, ihre Freude, die Sonne auf den Plätzen Roms, die Sterne in der Nacht, und Nando war jetzt und für immer ein Teil von ihr. Alles, was er ihr antat, tat er sich selbst an, ebenso wie Mara und Giovanni und Luca und den Sternen aus Feuer und Eis. Staunend schaute er zu Olvryon auf, während dieser seinen Blick ruhig über sein Gesicht gleiten ließ, und er wusste, dass der Herrscher der Ovo sein Gegenstück in sich trug.
    Olvryon trat näher, und Nando fühlte die Kälte, die von diesem Wesen ausströmte wie erkaltete Asche. Es stand nur da und schaute auf ihn herab, und als Nando seinen Blick erwiderte, stürzte er in die Finsternis von Olvryons Augen. Wie im Traum fand er sich in einer mondbeschienenen Gasse wieder. Der junge Mann mit den Flügeln hockte nicht weit von ihm entfernt. Ohne zu zögern, verschmolz Nando mit ihm, und als er sich in die Luft erhob und durch die Nacht dahinraste, da hörte er Olvryons Stimme in seinem Kopf. Sie durchdrang ihn in einem mächtigen Chor aus tausend Zungen, wurde zu Gesang, zu Freude, zu Freiheit, und sie wirbelte ihn durch die Luft und hielt ihn schwebend zwischen Licht und Schatten. Olvryon sprach zu ihm in Gedanken, Nando wusste, dass er ihm aus dem Nebel folgen würde, und er würde keine Schlinge dafür brauchen. Er hatte die Prüfung bestanden, die Prüfung der Ovo.
    Später wusste Nando nicht mehr, was er zuerst wahrnahm, als er sich schließlich vor dem Ovo wiederfand: das kaum merkliche Flackern in den Augen Olvryons, das von Gefahr kündete – oder das Zischen des Dolchs, der dicht an Nando vorbei auf den Ovo zuraste und mit einem knirschenden Geräusch in seine Kehle eindrang. Er erinnerte sich daran, wie Kälte seinen Körper

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