Nephilim
gegangen war und wie sie in der Ferne wundersame Gestalten hatten tanzen sehen. Doch diese Zeiten waren endgültig vorbei. Denn als die Verfolgung der Nephilim begonnen hatte, hatten die Ovo dies als Abfall der Engel von diesen Zielen gesehen und sie nicht nur aus ihrer Mitte ausgestoßen, sondern ihren Nebel auch für immer vor ihnen und ihrem Willen verschlossen. Kein königstreuer Engel würde es heutzutage überleben, durch einen Nebelstreif der Ovo zu wandern, und er könnte keinen Pfeil durch diesen Dunst schicken, ohne dass er sein Ziel verfehlen würde. Denn der Wille der Engel ist nicht länger der Wille der Ovo, und dort, wo einst Eintracht und Frieden herrschten, stehen nun Entzweiung und Zorn.
Avartos spürte Letzteren in sich aufwallen, als er den zerbrechenden Körper Olvryons betrachtete, doch er fühlte noch etwas anderes, etwas, das so ungewohnt war, dass er erst nach einem Moment das richtige Wort dafür fand, ein Wort, das wie ein Flüstern durch sein Hirn zog. He’vechray. Er zog die Brauen zusammen. Heimat. Warum kam ihm dieser Gedanke in den Sinn, während er auf den schwindenden Nebel der Ovo schaute, warum fiel ihm auf einmal das Atmen so schwer? Die Welt der Engel war seine Heimat, noch niemals hatte er diese Tatsache in Zweifel gezogen. Er stieß die Luft aus, um das leise geflüsterte Wort aus seinen Gedanken zu verbannen. Er hatte weder Zeit noch Interesse, sich mit Trivialitäten zu beschäftigen, die er sich nicht erklären konnte.
Rasch wandte er den Blick von den letzten Fetzen ab, die Olvryons Körper bildeten, und sah zu, wie der Nebel der Gasse endgültig zerbrach. Der Teufelssohn war ihm nah gewesen, er hatte ihn sprechen hören, hatte seinen Geruch wahrgenommen und schon den Pfeil seines Bogens auf sein Herz gerichtet, um es mit einem einzigen Treffer zu zerreißen. Doch im letzten Moment war ihm jemand dazwischengekommen.
Avartos erhob sich langsam. Der Ruf des Wolfs peitschte über die Dächer, doch die Bestie war längst im Nebel verschwunden. Sollte sie den Teufelssohn fangen … Avartos ballte die Faust, um diesen Gedanken abzuschneiden. Er fixierte den Nebel mit seinem Blick, jenen Nebel, der ihn ausschloss, und erstmals, seit er den Teufelssohn jagte, sprach er in Gedanken zu ihm.
Flieht nach Norden , flüsterte er. Flieht, um der Macht der Hölle zu entkommen, auf dass ich dich fangen werde – ich, Teufelssohn, der Krieger des Lichts.
36
Nando fuhr zusammen, als er Avartos’ Stimme in seinen Gedanken hörte, doch er handelte sofort. »Nach Norden!«, raunte er den anderen zu, die dicht hinter ihm waren. »Wenn wir unseren Weg zum Palatin fortsetzen, laufen wir ihm direkt in die Arme! Wir müssen das Portal auf dem Palazzo Montecitorio erreichen!«
Eilig machten sie kehrt. Der Nebel der Ovo verbarg sie vor den Augen der Menschen und schützte sie vor möglichen Übergriffen durch die Engel, doch Nando hörte es deutlich: das keuchende, gierige Hecheln des Wolfs, der ihnen auf den Fersen war, und die Worte Bhroroks klangen in seinen Gedanken wider: Niemals hat dieser Dämon eines seiner Opfer verfehlt: Harkramar, der Vielgesichtige!
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Ilja und warf einen Blick über die Schulter zurück. »Ist das der Dämon, der nach dir sucht?«
Ehe Nando antworten konnte, stieß der Wolf einen Schrei aus, so laut und durchdringend, dass eine Bestätigung dieser Vermutung sich erübrigte. Gleich darauf brach der Ruf in sich zusammen, das Hecheln verstummte, als würde der Wolf den Atem anhalten.
»Er jagt mich«, erwiderte Nando fast flüsternd. »Er wird mich töten, wenn er mich bekommt – und jeden, der sich ihm in den Weg stellt.«
Beinahe lautlos glitten sie dahin, Nando vorneweg, links neben ihm Noemi, zu seiner Rechten Ilja. Die anderen Novizen hatten sich in Formation begeben, um einen möglichen Angriff abwehren zu können, doch plötzlich hörten sie einen Laut wie das Brechen von Knochen, dicht gefolgt von dem knisternden Geräusch schuppiger Leiber, die sich aneinander rieben. Nando sah noch die Wirbel, die sich in der Straßenschlucht vor ihnen auftaten, rief in Gedanken den Befehl zur Umkehr – doch es war schon zu spät. Ein Schatten erhob sich aus der Kluft, es war ein Wolf mit borstigem schwarzen Fell, gekrümmten Gliedmaßen und langen, messerscharfen Zähnen, doch aus seinem Rücken brachen Flügel hervor, die aus unzähligen Insektenleibern bestanden, und seine Augen sahen aus wie die Kieferklauen einer Spinne, hinter
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