Nephilim
Panik nieder. »Ich glaube noch nicht einmal an Gott! Und jetzt erzählst du mir, dass es Engel gibt und erwartest, dass ich dir das abkaufe?«
Er stieß die Luft aus, doch der Laut klang nicht verächtlich, sondern bloß hilflos.
»Es ist ohne Belang, woran du glaubst«, entgegnete Antonio ruhig. »Aber womöglich ist jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, um dein Weltbild zu überdenken. Oder hast du es bis vor Kurzem für möglich gehalten, deine Hand in Flammen zu setzen?« Ein leicht spöttisches Lächeln huschte über seine Lippen, doch er wartete eine Antwort nicht ab. »Yrphramar wurde nicht von Menschen getötet, Nando. Er wurde ermordet von einer Kreatur, die auf der Suche ist nach dir. Und wenn sie dich findet, wird sie dir dasselbe antun wie ihm.«
Als hätte der Wind diese Worte gehört, stob er Nando mit eisigen Klauen ins Haar. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, ein Wispern kroch durch die Nacht wie das Summen unzähliger Insekten. Nando zog die Schultern an und schaute in die Finsternis am Ende der Straße, doch er konnte nichts Ungewöhnliches erkennen.
»Die Welt, wie du sie kennst, hat es niemals gegeben«, sagte Antonio und zwang Nando durch die plötzliche Schärfe in seiner Stimme, ihn anzusehen. »Die Wirklichkeit birgt mehr, viel mehr, als du dir jemals hättest träumen lassen. Engel existieren in ihr, Dämonen – und Wesen wie du.«
Nando spürte den Wind eiskalt auf seiner Haut. »Ich bin ein Mensch«, sagte er kaum hörbar, doch es klang, als wollte er sich selbst von etwas überzeugen, das von einem Augenblick zum nächsten keine Gültigkeit mehr hatte.
Schweigend setzte Antonio sich neben ihn, den Geigenkasten zwischen den Fingern. »Du bist ein Mensch«, stimmte er ihm zu. »Doch das ist noch nicht alles. Du, Nando, bist ein Nephilim.«
»Ich … «, begann Nando, doch seine Stimme versagte in einem heiseren Krächzen, und er musste sich räuspern, ehe er fortfuhr: »Ich bin ein Mensch und … ein Engel?« Seine brennende Hand stand ihm vor Augen, und er erinnerte sich nur zu gut an den Schlag, der Antonio quer durchs Obolus befördert hatte. Das Blut wich ihm aus dem Kopf. Antonio legte ihm eine Hand auf die Schulter, ein sanfter Strom aus Wärme zog durch seinen Körper und ließ ihn Atem holen. Er schüttelte den Kopf. »Ist das ein Scherz?«, fragte er kaum hörbar. »Ein Streich meiner Freunde? Bist du ein Schauspieler, der mich auf den Arm nehmen soll?«
Antonio schüttelte den Kopf. Übelkeit stieg in Nando auf, er zwang sich, ihr keinen Raum zu geben, und lachte trocken. »Aber das kann nur ein Scherz sein! Engel, Dämonen, Nephilim leben in dieser Welt, und ich bin einer von ihnen – na klar, und wer soll das glauben? Ich jedenfalls nicht!« Er kam auf die Beine und wich vor Antonio zurück. Wilde Entschlossenheit pochte hinter seiner Stirn. Er war kein Kind mehr, dem man Märchen erzählen konnte. Er würde sich nicht von einem dahergelaufenen Kerl mit seltsamen Augen und Klamotten zum Narren halten lassen. Zorn flammte in ihm auf und vertrieb die Hilflosigkeit, die er gerade noch empfunden hatte. »Enzo ist tot!«, rief er außer sich. »Er war mein Freund, verstehst du? Und du hast nichts Besseres zu tun, als mir Geschichten aufzutischen! Ich weiß nicht, wer du in Wirklichkeit bist und warum du das tust, aber ich sage es dir jetzt ganz deutlich: Ich halte dich für komplett durchgeknallt und ich will von dir nichts mehr hören, verstanden? Lass mich in Ruhe!«
Antonio öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch gleich darauf riss er den Kopf in den Nacken, ruckartig und schnell wie ein witterndes Tier. Er lauschte angestrengt, als würde er etwas hören, das Nandos Ohren verborgen blieb, doch sein Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze aus Schmerz und er stieß einen Laut aus, der wie ein Stöhnen klang. Die Muskeln an seinem Hals spannten sich, seine Haut wurde aschfahl. Mit einer Bewegung, die zu schnell war für Nandos Augen, griff er in die Tasche seines Mantels und zog ein glühendes Messer hervor. Er tat einen Schritt auf Nando zu und hieb direkt neben ihm in die Luft. Nando sprang zurück und sah zu seinem Entsetzen, wie die Straße dort, wo Antonio die Waffe geführt hatte, auseinanderklaffte wie ein zerrissenes Gemälde. Dahinter lag zäher Nebel, der sich rasch zu einem flackernden Wirbel aus Schatten formte.
Antonio trat auf Nando zu, seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Noch immer hielt er das glimmende Messer in seiner Hand. »Komm mit
Weitere Kostenlose Bücher