Nephilim
In ihr ist alles möglich, in ihr kann man sein, wer man ist, und man fällt nicht – man fliegt! Dann hatte er Nando angesehen, schweigend und abwartend, und dieser hatte tief Luft geholt, den Bogen auf die Saiten gelegt und gespielt.
Ein Schauer lief über Nandos Rücken, als er an diesen Augenblick zurückdachte. Der erste Ton, der die Nacht in ein Meer aus rauschenden Tüchern verwandelt hatte, das erste Atemholen des Instruments, das wie ein lebendiges Wesen in seinen Händen gelegen und den Bogen wie mit eigenem Willen über die Saiten geführt hatte, die Musik, die Nando wie flüssiges Gold durchströmt und ihn aus der Schwarzen Gasse fortgetragen hatte in ein Feuerwerk aus Schatten und gleißendem Licht. Nando spürte wieder die Funken auf seiner Haut, fühlte, wie sie in ihn einsanken und ihn ausfüllten. Er hatte die Musik nicht länger gehört, sondern sie vielmehr gefühlt. Jede Ahnung von Schmerz oder Lähmung war aus seiner linken Hand gewichen, als hätte es sie nie gegeben, und er erinnerte sich genau an den Augenblick, da er schließlich den Bogen für den letzten Ton über die Saiten gezogen und in der Gasse die Augen aufgeschlagen hatte. Nichts als Erstaunen und Schönheit war in Enzos Blick gewesen. Nando dachte an den Moment, da er die Geige an ihren Besitzer zurückgegeben hatte, erinnerte sich daran, wie sie sich verabschiedet hatten – er selbst atemlos und berauscht von dem musikalischen Höhenflug, den er erleben durfte, Enzo schweigsam und nachdenklich und mit diesem schattenhaften, undurchdringlichen Blick, als wollte er Nando etwas sagen, das er nicht sagen konnte. Schließlich hatte Enzo ihm die Hand auf die Schulter gelegt und ihn eindringlich angesehen. Vergiss das niemals , hatte er gesagt. Das Wechselspiel von Licht und Schatten, die Schönheit und den Wahnsinn der Musik – und die Freiheit, fliegen zu können.
Nando sah in die Finsternis des Treppenhauses, starrte wie gegen eine Wand aus Nacht und hörte Ellies Stimme darin widerhallen: Wir glauben, dass es Hass war, der ihn getötet hat. Nando sah Enzo vor sich, sah ihn in seiner Schwarzen Gasse unter dem Vollmond sitzen und spielen, eine seltsame, dunkle Melodie, und er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass so etwas passierte. Enzo war tot. Schon morgen würde in der Zeitung darüber berichtet werden wie über das Wetter und die neue Herrenmode im Herbst, ohne dass sich eigentlich jemand dafür interessierte. Es ist oft passiert, das weißt du, niemand schert sich um uns. Jetzt konnten sie offen darüber sprechen, wie unsauber Rom geworden war durch die Obdachlosen, wie merkwürdig Enzo gewesen war – all die Leute, die zu allem eine Meinung hatten und nichts verstanden.
Nando spürte, wie Übelkeit in ihm aufstieg und eine unbändige Wut auf die, die nichts begriffen. Man müsste sie packen und ihnen die Augen öffnen, müsste sie die Gespräche hören lassen, die er mit Enzo geführt hatte, die Geschichten, die er ihm erzählt hatte, die Märchen voller Zauber, und seine Musik, man müsste … Nandos Herz raste in seiner Brust, er fuhr sich mit der linken Hand über die Augen – und schrak zurück.
Seine Hand stand in Flammen.
Keuchend schlug er sie gegen seine Brust, doch das Feuer erlosch nicht. Blau züngelte es um seine Finger, ohne ihn zu verbrennen. Fassungslos starrte Nando auf seine Hand, als würde er sie zum ersten Mal sehen.
»Nun?«
Die Stimme hieb ihm als Faustschlag in den Magen. Wie im Traum wandte er sich um. Die Schatten im obersten Treppenaufgang glitten auseinander wie lautlose Tücher, und heraus trat Antonio.
»Glaubst du mir jetzt?«
6
Humpelnd eilte Nando die Straße hinunter. Er hatte das Treppenhaus fluchtartig verlassen, war dabei gestürzt und hatte sich das Knie aufgeschlagen, doch er fühlte es kaum. Seine Hand brannte in blauem Feuer, zischend verdampften die Regentropfen in den Flammen, sodass er einen Schweif aus Rauch und Funken hinter sich herzog. Er hatte keine Ahnung, wohin er lief. Sein Kopf war vollkommen leer, während er durch die Nacht rannte, dicht gefolgt von Antonio, der ihm scheinbar mühelos folgte und keine Schwierigkeiten damit hatte, nebenbei ohne Unterlass auf ihn einzureden. Aber Nando achtete nicht auf ihn. Er war vollends damit beschäftigt, seine Hand gegen seinen Oberschenkel zu schlagen, ungeachtet des Schmerzes, der ihn bei jedem Hieb durchzuckte. Es half wenig. Die Flammen erloschen nicht. Panisch blieb er vor einem kleinen Brunnen stehen und tauchte
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