Nephilim
Gestalt in den Schatten. Nando keuchte, als er ihre Stimme hörte, es war die Stimme aus seinem Traum.
Hilfloses Kind , raunte sie dicht an seinem Ohr. Ich ahnte, dass du nichts bist als ein schwacher Mensch.
Mit Entsetzen sah Nando, wie die Gestalt sich aus den Schatten löste und auf ihn zutrat, er sah die Schleier aus Nacht, die sie umgaben, und den Umriss einer Hand, die nach ihm griff. Nein , schoss es Nando durch den Kopf. Er durfte nicht sterben, nicht einfach so. Was würde aus Mara werden, was aus Giovanni und Luca? Er durfte sie nicht allein lassen, er durfte ihnen nicht diesen Schmerz bereiten, er musste sich wehren – mit aller Kraft. Mit einem heiseren Schrei riss er den Kopf zurück. Im nächsten Moment raste er durch die weißen Nebel in Bhroroks Blick und fand sich gleich darauf in dessen Klaue wieder.
Unwillig starrte Bhrorok ihn an, mit nichts mehr in seinen Augen als nebligem Weiß. Zorn flammte über sein Gesicht, als er das Maul aufriss. Schon hörte Nando die Insekten surren und knistern, er keuchte, als er die ersten Fühler aus Bhroroks Mund kriechen sah. Ihn traf etwas an der Wange. Er stieß einen kaum hörbaren Laut aus, doch Bhrorok stierte ihn in seltsamer Reglosigkeit an. Etwas hatte sich in seinem Gesicht verändert. Die Insekten waren verstummt, und stattdessen drang Blut aus seinem Mund, schwarzes, stinkendes Blut.
Bhrorok ließ Nando fallen, ein grollendes Stöhnen drang aus seiner Kehle, als er nach Nandos Arm griff und ihm die Haut zerriss, ohne ihn packen zu können. Nando sprang vor ihm zurück, erst jetzt sah er den schwarzen Pfeil, der in Bhroroks Hals steckte. Er glühte in weißem Feuer und verschmorte Bhroroks Fleisch, ehe dieser keuchend auf die Knie fiel. Ein letztes Mal stöhnte Bhrorok auf. Dann sackte er in sich zusammen und blieb reglos liegen.
Nandos Knie wurden weich. Schnell stützte er sich an der Hauswand ab, er fühlte, dass sein überforderter Verstand drohte, sich in die Ohnmacht zu verabschieden. Schwer atmend hob er den Blick und sah, wie sich eine Gestalt näherte.
Sie war hochgewachsen und trug einen schattenhaften schwarzen Gehrock, der sie beinahe vollständig mit ihrer Umgebung verschmolz. Nando kniff die Augen zusammen, denn auf einmal flackerte die Gasse vor seinen Augen, und er meinte, gewaltige Flügel aus dem Rücken der Gestalt aufragen zu sehen. Helles, fast weißes Haar fiel auf die Schultern herab und umrahmte ein schmales Gesicht, ein Gesicht, das … Nando schwankte und fiel auf die Knie, doch er wandte den Blick nicht ab. Zuerst wirkte dieses Gesicht sanft, beinahe zart. Doch ein Lächeln lag auf seinen Lippen, ein Lächeln von leichtem Spott, und die Augen flammten in goldenem Licht und machten Nando eines unmissverständlich klar: Vor ihm stand ein Engel, ein Krieger und ein Jäger, und er war nicht gekommen, um Nando zu beschützen. Er war gekommen, um ihn zu töten.
Nando wollte sich aufrappeln, er wollte fliehen, aber sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Hilflos schaute er zu dem Engel auf, der dicht an ihn herantrat, und meinte, einen suchenden, fast sehnsüchtigen Ausdruck in dessen Augen zu erkennen. Er sah die Dunkelheit, die hinter den goldenen Augen aufflammte, und nahm den Duft von Schnee und Sonnenlicht wahr. Er verstand nicht, warum dieses Wesen ihn töten wollte, aber eines wusste er ohne jeden Zweifel: Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er etwas so Schönes gesehen wie das zitternde Spiel aus Licht und Schatten weit hinten in den Augen des Engels.
Da überzog plötzlicher Zorn dessen Gesicht. Mit einer fließenden Bewegung warf der Engel seinen Gehrock zurück und griff nach seinem Schwert. Nando hörte das metallische Geräusch, er sah, wie der Engel die Augen schloss. Im nächsten Moment flog ein Schatten von rechts heran, packte das Schwert des Engels und trieb es ihm tief in die Brust. Der Schatten wirbelte herum, sein Mantel flatterte im Wind, als er auf Nando herabblickte.
»Du kannst dich entscheiden«, sagte Antonio, denn niemand anders war es. Eine klaffende Wunde zierte seine rechte Schulter, seine Kleidung war verkohlt von Nandos Feuerball. »Entscheide dich zwischen Himmel oder Hölle – und mir!«
Regungslos stand Antonio da, die Hand ausgestreckt, als würde er das Röcheln des Engels nicht hören, der langsam das Schwert aus seiner Brust zog und verschlungene Worte über seine Lippen brachte. Nando sah, wie blauer Nebel aus der Wunde drang und sie zu heilen begann, und er fühlte sein Herz im
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