Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nephilim

Nephilim

Titel: Nephilim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
Vom Netzwerk:
fahlen Lichtkranz die zertrümmerten Überreste der Geige sah. Ein Zittern lief durch seine Glieder. Er strich über das Holz, und seine Kehle zog sich zusammen, als er an Enzo dachte. Enzo, der Geigenvirtuose, der immer mehr als das gewesen war.
    Nando erinnerte sich noch genau an ihr erstes Zusammentreffen. Es war eine Frühsommernacht gewesen, und Enzo hatte allein auf den Stufen der Spanischen Treppe gesessen, den Vollmond über sich, die Augen geschlossen, und auf seiner Geige gespielt. Die Töne hatten Nando innehalten lassen, obwohl er in Eile gewesen war, aber er war stehen geblieben wie erstarrt und hatte zu dem einsamen Mann auf der Treppe hinaufgeschaut und sich von seiner Musik verzaubern lassen, so sehr, dass er beim Verklingen der letzten Töne erwacht war wie nach einem langen Schlaf. Enzo hatte die Augen geöffnet und Nando sofort angesehen, als hätte er die ganze Zeit über gewusst, dass dieser dort gestanden und ihn betrachtet hatte. Er hatte seine Geige sinken lassen, den Bogen gehoben und leicht damit gewunken, und als hätte er auf diese Weise an einem unsichtbaren Faden gezogen, war Nando zu ihm gegangen und hatte ihn wie ein staunendes Kind angesehen. Enzo hatte gelacht, noch heute hörte Nando dieses perlende, ansteckende Lachen, war aufgestanden und hatte sich formvollendet verbeugt, um dann mit tiefem Ernst in der Stimme zu sagen: »Gestatten – Enzo Astori mein Name, Weltenwanderer, Geschichtenerzähler, Violinist und Zauberer in einer Person.« Er hatte Nando aufgefordert, sich zu ihm zu setzen, und dann hatten sie die ganze Nacht über Musik gesprochen, über Kunst, über das Leben, und im Morgengrauen hatte Enzo sich verabschiedet. Nando hatte ihm nachgesehen, wie er langsam davongegangen war, und er hatte gewusst, dass er einen Freund gefunden hatte.
    Von dieser Nacht an war Enzo regelmäßig ins Obolus gekommen und hatte Nando eines Tages zu sich in die Schwarze Gasse eingeladen – ein Straßenname, den Enzo ihr selbst gegeben hatte wegen der dunklen Häuser, die sie umgaben. Nando war der Einladung gefolgt und hatte auf Enzos Wunsch hin seine eigene Geige mitgebracht. Er hatte nie gelernt, nach Noten zu spielen, und war sehr aufgeregt gewesen, als Enzo ihn aufgefordert hatte, etwas zum Besten zu geben, zumal er aufgrund der Verletzungen seiner linken Hand selten ein Stück ohne Unterbrechung spielen konnte. Doch es war ihm gelungen, mehr noch, als Enzo mit seinem Instrument in seine Melodie einstimmte, da war es Nando erschienen, als hätte die Musik selbst seine Hände geleitet, noch ehe sie zu Tönen geworden war. Er hatte nicht an seine verwundete Hand gedacht, nicht an die Schmerzen und die Lähmungserscheinungen, die ihn seit Jahren überfielen, und als er schließlich die Geige hatte sinken lassen, da hatte Enzo ihn angesehen, schweigend und mit diesem leisen, verschmitzten Lächeln, das Nando stets das Gefühl gegeben hatte, dass sein Gegenüber in allen Dingen viel mehr wusste als er jemals zugeben würde. Von diesem Moment an hatte Nando gewusst, dass er in Zukunft nur noch auf diese Weise spielen wollte – in Freiheit.
    Seither hatten sie häufig zusammen musiziert, und Nando hatte gespürt, wie er durch das gemeinsame Spiel gefördert wurde, wie er Stücke erlernte und Fertigkeiten ausbildete, mit denen er seiner alten Geige Töne entlocken konnte, von denen er vorher nicht einmal geglaubt hatte, dass es sie gab. Er holte tief Atem, als er an den letzten gemeinsamen Abend dachte, jenen Abend vor etwa drei Wochen. Enzo war am Nachmittag ins Obolus gekommen, freundlich und höflich wie immer und doch auf eine unterdrückte Weise aufgeregt wie ein Kind, als er Nando für die Nacht in seine Gasse einlud. Dort erwartete Enzo ihn mit feierlicher Miene und überreichte ihm ohne viel Aufhebens seine Geige. Nando musste lächeln, als er daran dachte, wie er im ersten Moment vor dem Instrument zurückgewichen war. Diese Geige, das war ihm von Anfang an klar gewesen, war ein Unikat, eine Meisterin der Töne, von der er manches Mal bereits gedacht hatte, dass sie fähig sein musste, auch ohne menschliche Hand Klänge hervorzubringen, so klar und rein war die Musik, die ihr entsprang. Enzo hatte ihm nie verraten, wo diese Geige gebaut worden war, und sein geheimnisvolles Lächeln hatte Nandos Finger zittern lassen, als er das Instrument in Empfang genommen hatte. Die Musik , hatte Enzo ihm mit selten ernster Miene gesagt, ist die vollkommene Verbindung zwischen Licht und Finsternis.

Weitere Kostenlose Bücher