Nephilim
die Anzahl an Kriegern, um den Dämonen die Stirn bieten zu können, schon gar nicht Bhrorok, dem Höllengeschöpf, das nicht zu bezwingen ist. Uns bleibt nichts anderes übrig, als diese Gefangenen zurückzulassen. Doch vergessen werden wir sie nicht, und wir werden ihnen zu Ehren nun die Augen schließen und für einen Moment schweigen.«
Nando starrte Drengur an, er sah, wie der Dämon den Blick über die Reihen schweifen ließ – und schrak zusammen, als fast sämtliche Umsitzenden die Köpfe neigten und die Augen schlossen. Er bemerkte Riccardos Blick auf seinem Gesicht, fühlte auch Avartos, der ihn aus der Finsternis heraus fixierte, doch stärker noch als dies spürte er die Stille, die sich als todbringende Schlinge um seine Kehle legen und sich zuziehen wollte.
»Krieger der Schatten!«, rief er und kam auf die Beine. Die Zuhörer zuckten zusammen wie unter einem Schlag, doch sie alle wandten die Köpfe und sahen Nando an, einige erstaunt, andere fragend. Hilflos hob er die Arme und ließ sie wieder sinken. »Wisst ihr, was ihr da tut?«, fragte er und hörte, wie seine Stimme wie der Wind Bantoryns über ihre Köpfe flog. »Ihr schweigt für jene, die ihr im Stich lassen wollt? Ihr gebt sie auf, überlasst sie den Dämonen, sie, eure Nachbarn, eure Brüder, eure Schwestern, eure Freunde? Sie warten auf uns! Sie brauchen unsere Hilfe, wenn sie nicht sterben sollen! Wie könnt ihr sie zurücklassen! Wie könnt ihr das tun!«
Drengur fixierte Nando mit seinem Blick, und dieser konnte sehen, dass der Dämon am liebsten in seine Empörung eingefallen wäre. Doch er war der Stellvertreter von Antonio und damit dessen Erbe. Er durfte den Vorsitz des Senats nicht seinen eigenen Interessen unterordnen. »Das Volk Bantoryns ist am Ende«, sagte er, und Nando schien es, als würde er diese Worte nur zu ihm sagen. »Seht euch um. Keiner hier kann mehr kämpfen. Wir mögen Krieger der Schatten gewesen sein, doch dieses Erbe ist zerschlagen worden wie der Nebel der Ovo, der durch den Niedergang Bantoryns zerrissen wurde und sich in alle Winde zerstreute. Das, was wir einst waren, ist vorbei.«
Nando fuhr sich an die Kehle, auf einmal bekam er keine Luft mehr, doch noch ehe er einen Laut hervorbringen konnte, erhob sich eine Gestalt neben ihm. Erschrocken erkannte er, dass es Avartos war. Langsam zog der Engel sich die Kapuze vom Kopf.
Ein Aufschrei ging durch die Menge, nackte Panik stand in jedem Gesicht, doch da hob Avartos die Hand, und als hätte er einen Flammenzauber auf jeden Einzelnen gerichtet, hielten die Nephilim inne und starrten ihn schreckensbleich an. Selbst Drengur stand regungslos, und in seiner Haltung lag etwas, das Nando gerade noch in der angespannten Wartestellung des Engels bemerkt hatte, eine Unruhe und Wachsamkeit, die nur angesichts des eigenen, in Licht oder Finsternis getauchten Spiegelbildes entstehen konnte. Drengur rührte sich nicht, aber seine Augen standen in schwarzen Flammen.
»Nephilim«, raunte Avartos, doch seine Stimme drang an jedes Ohr. »Ihr seid also das sagenhafte Volk Bantoryns, das unter dem Engel Alvoron Melechai Di Heposotam zu wahrer Schönheit heranwuchs. Ihr seid das Volk, das mir und meinesgleichen immer wieder durch die Finger schlüpfte. Ich hörte von eurer Tapferkeit, von eurem Mut und eurem Ehrgefühl – und ich hörte von dem Ideal der Freiheit und Verbundenheit, auf dem eure Stadt einst gegründet wurde. Nichts davon scheint der Wahrheit zu entsprechen, denn in euren Augen sehe ich nichts als Resignation und Furcht!«
Kaum hatte er das letzte Wort über ihre Köpfe geschickt, schrien die Anwesenden erneut auf.
»Was hast du hier zu suchen?«, donnerte da Drengurs Stimme durch die Höhle und zwang jeden, an seinem Platz zu bleiben. »Was willst du hier in der dunkelsten Stunde unseres Volkes, du, Abschaum des Lichts?«
Nando fühlte das Kräftemessen zwischen diesen beiden, die nun nichts anderes mehr waren als Abgrund und Sturm, doch er stellte sich vor Avartos, mitten hinein in die Kälte, die von dem Engel ausging, und die glühende Hitze, die von Drengurs Leib auf ihn zuraste, und er ertrug den Wind, der über sein Gesicht peitschte wie Schwärme aus tausend Scherben.
»Sein Name ist Avartos«, sagte er und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme ein wenig zitterte. »Und er ist hier, weil er mir das Leben rettete und Antonio vor einem Tod unter den Augen des Teufels bewahrte!« Laute des Erstaunens flammten aus den Reihen auf, und Nando ließ
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