Nephilim
diesem Wetter auf Dächern und Brücken herumsteht«, sagte er und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme zitterte. »Ich habe das oft getan, hast du das gewusst? Damals, als ich noch in der Oberwelt lebte und nichts ahnte von Bantoryn und der Schattenwelt. Ich mochte es, von dort oben hinabzuschauen … « Er hielt kurz inne, während Noemi regungslos auf ihn niederstarrte. »Diese Brücke ist die älteste Brücke der Stadt«, fuhr er fort. »Erinnerst du dich daran? Und weißt du noch, wie du mir sagtest, dass sie ein Symbol für dich sei, ein Symbol für die Stärke und die Unnachgiebigkeit unseres Volkes, für den Willen, Abgründe und Grenzen zu überwinden, und für die Sehnsucht nach dem, was auf der anderen Seite liegt – was es auch sein mag? Du hattest recht, Noemi, mit allem, was du mir an diesem Ort gesagt hast, doch diese Brücke steht auch für dich. Denn du bist ebenso unnachgiebig, ebenso stark und bereit, Grenzen zu überwinden.«
Er hielt inne, denn in diesem Moment ging ein Dröhnen durch die Brücke. Es war der Widerhall schwerer Schritte, und Nando hörte das Metall ächzen unter plötzlicher Kälte. Bhrorok näherte sich, doch Nando zwang sich, nicht auf ihn zu achten.
»Noemi«, rief er und fühlte einen Stich in seiner Brust, als sie ihn noch immer mit diesem leeren Blick ansah. Der Drudenfuß flammte auf ihrer Stirn auf wie Spottgelächter. »Ich weiß, dass du mich hören kannst, irgendwo in der Dunkelheit, in die Bhrorok dich geschleudert hat, und ich weiß auch, dass du stark genug bist, um dich gegen ihn zu wehren! Du kannst ihn bezwingen, du kannst deinen Willen gegen ihn behaupten! Warum ich mir da so sicher bin? Weil Silas es mir sagte!«
Noemi fuhr zusammen, kaum merklich zwar, doch die Geste war für Nando so stark wie ein Faustschlag. »Ich kannte Silas nicht gut«, sagte er und ignorierte die Kälte, die hinter ihm die Brücke hinaufkroch. »Aber er hat Dinge zu mir gesagt, die ich niemals vergessen werde, Dinge, die mich auf meinem Weg begleiten und die schon oft meine Entscheidungen bestimmt haben. Ich erinnere mich an unser erstes Gespräch, er hat von dir gesprochen, und er sagte: Es mag dir merkwürdig erscheinen, aber Noemi ist der stärkste Nephilim, den ich kenne. Es gibt nichts, das sie nicht schafft, wenn sie es sich einmal vorgenommen hat. «
Er erinnerte sich daran, wie Silas das gesagt hatte, erinnerte sich an das Lächeln und die stille Zuneigung, die sich in den Augen des Nephilim gespiegelt hatte, und er sah das Flackern, das durch Noemis Blick ging.
Doch in diesem Moment zog ein Donnern durch die Brücke, dicht gefolgt von dem Tosen gewaltiger Flammen. Nando wandte den Blick, und da sah er, wie Bhrorok auf ihn zutrat. Eis kroch ihm voran, und als ein höhnischer Widerspruch flankierte ihn schwarzes Feuer. Wie eine Gestalt aus einem düsteren Märchen schritt der Dämon voran, den Kopf tief geneigt, den Mund zu einem spöttischen Lächeln verzogen, und bewegte die Hände mit seinen Schritten. Noch einmal sah Nando Noemi an.
»Ich bin für dich nach Bantoryn zurückgekehrt«, sagte er, und seine Stimme klang fest, als würde sein Blut nicht wie ein tosender Fluss durch seine Adern rasen. »Und ich werde dich aus Bhroroks Klauen befreien. Ich werde mich ihm entgegenstellen, ich werde meiner Stärke vertrauen – so wie du.«
Für einen Moment wurden Noemis Augen grün wie Smaragde, die Farbe brandete gegen die Dunkelheit in ihrem Blick und riss sie mit sich. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch gleich darauf verzerrte sich ihr Gesicht wie unter Schmerzen, und ein Wort drang über ihre Lippen, getragen von der Stimme eines Dämons.
»Teufelssohn!«
Nando fuhr herum, denn die Stimme Bhroroks umhüllte ihn von allen Seiten. Der Dämon blieb in einiger Entfernung stehen, die Flammen loderten um ihn herum auf, nur das Eis bahnte sich weiter seinen Weg und legte sich als dünne Schicht aus Raureif auf Nandos Haut. Ein Frösteln lief durch seinen Körper, doch er zwang sich, keine Regung zuzulassen. Schweigend starrte er Bhrorok an, dessen Miene versteinerte.
»Ich habe dich gejagt«, sagte der Dämon. »Ich habe dich gesucht, und nun habe ich dich gefunden. Die Zeit des Redens ist vorbei. Dein Kampf ist verloren. Gib mir die Kraft, die dir nicht gehört. Komm zu mir und opfere dich – oder sieh, wie das Mädchen fällt!«
Ruckartig riss Bhrorok die linke Faust empor. Ein Zauber legte sich um Noemis Kehle, der Drudenfuß flammte grell auf. Reglos
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