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Nephilim

Nephilim

Titel: Nephilim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
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sein wird , raunte er in Nandos Gedanken. Manche glauben, dass er von den ersten Wesen der Welt stamme, von den Drachen, die tief im Inneren der Erde schlafen sollen. Vielleicht ist das wahr. Ich denke, dass es der Herzschlag der Welt ist, ihr Atem, ihre Stimme, ihr Ich.
    Wortlos setzten sie ihren Weg fort, bis der Nebel sich lichtete. Nando fand sich auf einer Anhöhe wieder, die weit hineinragte in eine gewaltige Höhle. Pfeiler aus grob behauenem Fels trugen die Decke, an der funkelnde Gesteine prangten wie Sterne aus Feuer und Eis. Schwaden aus Staub und Flammen fegten als Geistergestalten über den zerklüfteten Boden rund um den Hügel, der in der Mitte der Höhle lag. Und darauf, umfasst von mächtigen Felsen, die wie die gekrümmten Klauenfinger eines Drachen fast bis hinauf zur Decke ragten, lag Bantoryn, die Stadt jenseits des Lichts.

10
    Die Häuser drängten sich in den Klauen des Gesteins zusammen wie die Würfel eines Riesen. Schmale Gässchen wanden sich an zahlreichen Tropfsteinformationen empor, die wie Türme zur Decke hinaufwuchsen und von Wohnungen durchbrochen wurden, und in der Mitte der Häuser, deren Lichter in sanftem Silberschein zu Nando herüberglommen, erhob sich ein gigantischer Stalagnat. Sein Stein schimmerte weiß und er erinnerte Nando mit seinen fächerförmigen Auswüchsen zu allen Seiten an eine Blume oder an ein lebendiges Organ mit Kammern, Lebensadern und Verästelungen. Brücken aus Holz und Metall verbanden den Stalagnaten mit kleineren Tropfsteintürmen, sie hoben, senkten und drehten sich an riesigen Ketten, und Nando meinte, das metallene Knirschen von Zahnrädern zu hören, wenn sie einrasteten. Außerdem nahm er das Rauschen des Flusses wahr, der in einiger Entfernung zu seiner Linken aus dem Nebel brach. Als schwarz glitzerndes Band führte er quer durch die Stadt, stürzte in Kaskaden aus Dunkelheit in eine Schlucht der zerklüfteten Ebene und verlor sich in der Dämmerung der Höhle.
    Turbinen drehten sich an Decken und Wänden und trugen einen schweren, samtenen Duft zu Nando herüber, den dieser bereits bei Antonio wahrgenommen hatte und der ihn in dieser Umgebung unwillkürlich an das Flüstern des Meeres denken ließ und an den blauschwarzen Himmel, der sich in lauen Sommernächten über den Blütenwiesen vor den Toren Roms spannte. Er schaute hinüber zu dem Abhang, der von der rechten Höhlenwand abfiel, und bemerkte unzählige purpurfarbene Mohnblumen mit großen, ausgefransten Blütenblättern, die sich bis weit in die Ebene hineinzogen und sich leicht im Wind bewegten. Ein schmaler Weg führte von der Stadt zum Mohnfeld, roter Blütenstaub wirbelte in Schwaden durch die Luft.
    »Papaver somniferum«, sagte Antonio, der seinem Blick gefolgt war. »Schlafmohn, eine besondere Sorte selbstverständlich. Ich habe ihn selbst gezüchtet, seither hüllt er Bantoryn in seinen samtenen Schleier. Er birgt Tod und Heilung in seiner Gestalt. Seine ausgereiften Fruchtkapseln können als Schmerzmittel dienen und fiebersenkend wirken. Die Kronblätter hingegen werden zur Herstellung des Giftes verwendet, mit dem wir unsere Pfeile benetzen. Und aus seinem Milchsaft lässt sich Opium herstellen.«
    Nando nickte gedankenverloren. Er schaute zu den dunklen Schatten hinauf, die über die Stadt hinwegglitten, und glaubte im ersten Moment, dass es sich bei ihnen um riesige Fledermäuse oder Adler handelte. Dann jedoch erkannte er, dass es Nephilim waren, die lautlos durch die Luft glitten und auf den Türmen der Stadt und den kunstvoll gestalteten Plattformen der Stalagmiten landeten. Er schaute hinüber zu dem weißen Stalagnaten und meinte kurz, dass dessen Licht heller wurde, als wäre es ein Leuchtfeuer, das sich nur für ihn entfachte.
    Schweigend folgte er Antonio den schmalen Weg hinab auf die Ebene und bemerkte, dass der zerklüftete Boden nur auf den ersten Blick schwarz war. In Wahrheit trug er viele weitere Farben, die sich in gelben, roten und ockerfarbenen Sprenkeln und Adern durch das Gestein zogen und ihn an die vielfarbigen Krater des Ätnas denken ließen, den er vor Jahren einmal mit Mara und Giovanni besucht hatte. Und wie dort gab es auch auf der Ebene Bantoryns warme Luftströme, die vereinzelt aus Felsspalten entwichen, und hin und wieder hörte Nando ein Geräusch wie das tiefe Grollen sich bewegender Gesteinsmassen tief im Inneren der Erde. Heiße Quellen sprudelten an mehreren Stellen, ihr Wasser war algengrün oder blau, und überall liefen kleine rote

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