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Nerd Attack

Nerd Attack

Titel: Nerd Attack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Stoecker
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das bis dahin niemandem gelungen war: All den Menschen, denen der Umgang mit Computern, Programmen und Technik im Allgemeinen Glücksgefühle und tiefe Befriedigung ermöglichte, eine gemeinsame Basis zu geben, einen Bezugspunkt, ein Identifikationsangebot. Auch in Europa fielen Levys Destillate auf fruchtbaren Boden: Einer der Gründer des Chaos Computer Clubs, der Urvater der deutschen Hacker-Bewegung, Herwart »Wau« Holland-Moritz, übersetzte Levys Regeln und erweiterte sie ein wenig. Die Erweiterungen betrafen, und das ist tatsächlich typisch Deutsch, Datenschutz und Privatsphäre.
     
    Die sechs Regeln aus Levys Buch lauten (Übersetzung vom Autor):
     
Der Zugang zu Computern und auch sonst allem, was einem etwas über die Funktionsweise der Welt beibringen könnte, soll unbegrenzt und vollständig sein. Der praktischen Erfahrung muss immer Vorrang gegeben werden!!
Alle Information soll frei sein.
Misstraue Autorität – fördere Dezentralisierung.
Hacker sollen nach ihrem Hacken beurteilt werden, nicht nach Scheinkriterien wie Abschlüssen, Alter, Rasse oder sozialer Stellung.
Man kann mit einem Computer Kunst und Schönheit schaffen.
Computer können dein Leben zum Besseren verändern.
     
    Wau Hollands Ergänzungen lauten:
     
Mülle nicht in den Daten anderer Leute.
Öffentliche Daten nützen, private Daten schützen.
     
    Diese Hacker-Regeln oder doch zumindest ihren Geist zu kennen und zu verstehen ist essenziell, wenn man die digitale Welt von heute begreifen will. Obgleich wohl kaum ein 17-Jähriger sie aufzählen könnte, bestimmen sie als ideologisches Grundgerüst das Denken der digitalen Einheimischen von heute stärker als jede herkömmliche politische Ideologie. Marxismus, Leninismus und Maoismus haben als politische Gegenpositionen zum Kapitalismus weitgehend ausgedient – die Hacker-Ethik aber ist ein auf ganz eigene Weise kaum weniger radikaler Gegenentwurf. Subversiv macht sie nicht zuletzt, dass sie sich in Teilen auf ein wesentlich älteres, ungemein erfolgreiches Regelwerk stützt: die Gepflogenheiten und Ideale der internationalen Forschergemeinde. Radikal werden diese Gedanken erst, wenn man sie nicht nur auf den klar definierten Bereich des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns bezieht, sondern auf das gesellschaftliche Zusammenleben insgesamt. Wenn man den Begriff »Information« deutlich weiter fasst und ihn auf alles ausdehnt, was sich heute in Form von digitalen Daten speichern und weitergeben lässt.
    Die Schäden, die die Musikbranche durch Raubkopien und Internet-Tauschbörsen erlitten hat, sind ebenso eine indirekte Folge der Hacker-Ethik wie das traurige Schicksal von Brockhaus, Britannica und Co. – und die Probleme, die die Whistleblower-Plattform WikiLeaks Militärs, Geheimdiensten und Politikern bereitet, indem sie sich das Recht herausnimmt, auch als streng geheim eingestufte Dokumente für jedermann zugänglich zu veröffentlichen. Totale Informationsfreiheit ist eine äußerst radikale Forderung – und Wau Holland bewies großen Weitblick, als er sie mit der Ergänzung »private Daten schützen« einschränkte.
    Die Hacker-Ethik ist ein politisches Bekenntnis jenseits von rechts und links, und folgerichtig gibt es linke wie rechte Hacker. Holland, der Gründervater der deutschen Hacker-Bewegung, der 2001 mit nur 49 Jahren starb, verkörperte dieses Prinzip wie kaum ein anderer. Obwohl er selbst ein Linker war, ein Kind der Sponti-Bewegung der Siebziger, lautete eine seiner im eigenen Umfeld durchaus umstrittenen Forderungen: »Freiheit auch für Nazis«.
    Wau Holland war ein Unikum, eine Art gemütlicher Gegenpol zur fiebrigen Technikbegeisterung eines Karl Koch. Aber auch einer, der rückblickend wie die Personifizierung des Clubnamens wirkt. »Wau war Chaos«, sagt Tim Pritlove, der einst als Nachmieter in Hollands ehemalige Hamburger Wohnung einzog. Holland war lebenslang korpulent, trug einen zotteligen Bart und häufig Latzhosen, in den späteren Jahren seines Lebens auch gerne lange afrikanische Gewänder. »Der Typ war die Zukunft«, sagt Pritlove über Holland, »aber er sah aus wie irgend so ein bärtiger Zausel aus dem Wald.« Er war sehr belesen, ein begnadeter Redner, der die jungen Nachwuchs-Hacker, die sich im CCC zum Basteln und Programmieren versammelten, immer wieder mit langen, mäandernden Spontanvorträgen über Freiheit und Verantwortung, die Französische Revolution, gesellschaftliche Veränderung von unten und Völkerverständigung

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