Nerd Attack
Bundespolizei und Geheimdienste, schienen sich plötzlich in die Belange jener Pioniere einmischen zu wollen, die den Cyberspace zu ihrer neuen Heimat gemacht hatten, und zwar bar jeder Kenntnis des Terrains. Das vertrug sich gar nicht mit den Vorstellungen von Freiheit und neuen, endlich wieder unbegrenzten Möglichkeiten, die in The Well und andernorts gepflegt wurden.
In einem berühmt gewordenen Text mit der Überschrift »Crime and Puzzlement« (Verbrechen und Verwirrung), gewissermaßen dem Gründungsdokument der Electronic Frontier Foundation, formulierte Barlow diese Hoffnungen und Visionen später, indem er auf William Gibsons Wortschöpfung zurückgriff: »Der Cyberspace hat, in seinem gegenwärtigen Zustand, viel mit dem Westen des 19. Jahrhunderts gemeinsam. Er ist riesig, nicht kartiert, kulturell und juristisch vieldeutig, knapp in seinen sprachlichen Äußerungen (außer man ist zufällig ein Gerichtsstenograf), schwierig zu bereisen und für jedermann zu haben. Große Institutionen behaupten bereits, dieser Ort gehöre ihnen, aber die meisten echten Eingeborenen sind vereinzelt und unabhängig, manchmal bis an den Rand des Soziopathischen. Selbstverständlich ist er ein perfekter Nährboden für Gesetzlose ebenso wie für neue Vorstellungen von Freiheit.«
Barlow hatte mit diesen »Gesetzlosen« durchaus schon seine eigenen Erfahrungen gemacht: Im Laufe einer vom Magazin »Harper’s Bazaar« orchestrierten Debatte über Freiheit, Regeln und Rechte in den neuen Online-Welten, die in den virtuellen Räumlichkeiten von The Well abgehalten wurde, war er mit zwei jugendlichen Hackern namens Acid Phreak und Phiber Optik aneinandergeraten. Man konnte sich nicht darüber einigen, ob Einrichtungen, die ihre Computersysteme nicht ausreichend gegen Eindringlinge schützten, selbst schuld seien – oder ob der Einbruch in ein ungenügend geschütztes Computersystem gleichzusetzen sei mit dem Ausrauben eines Hauses, dessen Tür nicht abgeschlossen ist. Barlow bekannte, er schließe seine Haustür aus Prinzip nicht ab. Phiber Optik überzeugte ihn zunächst mit Sticheleien, seine Postadresse im Forum zu veröffentlichen. Dann verschaffte er sich, angespornt von der demonstrativen Furchtlosigkeit Barlows, Informationen über dessen Kreditwürdigkeit und Bankgeschäfte aus den digitalen Beständen einer Finanzauskunftei – und veröffentlichte diese bei The Well. Barlow war schockiert: »Ich bin schon mit schulterlangen Locken in Redneck-Bars gewesen, auf Acid in Polizeigewahrsam und nach Mitternacht in Harlem, aber niemand hat mich je so erschreckt wie Phiber Optik das in diesem Moment getan hatte«, schrieb Barlow später.
Doch im Anschluss an diesen Zusammenstoß vertiefte sich der Kontakt zwischen dem Hippie und den Hackern, Barlow lernte Phiber Optik und Acid Phreak persönlich kennen, die sich als geschniegelt aufretende 18-Jährige entpuppten, Barlow zufolge »so gefährlich wie Enten«. Wenige Monate vor Barlows unerwarteter Begegnung mit dem FBI hatten auch seine beiden neuen Freunde Besuch bekommen. Spezialagenten des Secret Service durchsuchten die Wohnungen der beiden Teenager und beschlagnahmten Computer, Kassettenrekorder und anderes. Acid Phreak lebte noch bei seiner Mutter. Als Secret-Service-Agenten bewaffnet in die Wohnung eindrangen, trafen sie dort nur seine zwölfjährige Schwester an und »schafften es, sie eine halbe Stunde in Schach zu halten, bis ihre Beute nach Hause kam«, wie Barlow danach spottete. Einer der Agenten erklärte Acids Mutter, ihr Sohn werde verdächtigt, für den teilweisen Zusammenbruch des Telefonnetzes von AT&T neun Tage zuvor verantwortlich zu sein, den Martin Luther King Day Crash. Tatsächlich war der Zusammenbruch von Teilen des nordamerikanischen Telefonnetzes durch einen Software-Fehler in den Schaltstationen von AT&T verursacht worden, nicht durch äußere Einflüsse. Aber es dauerte eine Weile, bis die Ingenieure des mächtigen Telekommunikationskonzerns das herausgefunden hatten. Zunächst einmal verlegte man sich, womöglich inspiriert durch die Ereignisse in Deutschland, auf einen naheliegenden Sündenbock: böswillige Hacker.
Barlow hatte in seinen Well-Postings immer wieder betont, der Cyberspace sei die neue »Frontier«, das mythische Grenzland zwischen der vermeintlich zivilisierten Welt und unerforschten Regionen. Sein launiger Bericht auf The Well über den Besuch des FBI-Mannes und seine Warnung, dass das eben erst entdeckte Reich der Freiheit und
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