Nervenflattern
haben zu den meisten Mitarbeitern im Haus Kontakt. Und mir selbst ging es zu der Zeit auch nicht schlecht.«
Hain stöberte in den Putzmaterialien herum, die in einem großen Metallregal lagen. Auch hier würden sie nichts finden, was ihnen weiterhelfen könnte.
»Herr Schober sagte, dass hier im Haus alle entsetzt waren, wegen des Unfalls.«
»Blödsinn. Schober sitzt den ganzen Tag in seinem schönen Büro und hält über sein Funkgerät Kontakt zu uns. Ich habe noch ein gutes Jahr hier abzusitzen, dann gehe ich in Rente, und solche Typen wie den werde ich am wenigsten vermissen. Er hält sich für einen Magier der Zahlen, das sagt er selbst, aber wenn Sie mich fragen, ist er ein ganz armer Hund. Und die Ayse Bilicin hat er nie zu Gesicht gekriegt, geschweige denn hat ihn ihr Tod interessiert. Ich hatte an dem Abend keinen Dienst, aber ich bin sicher, es lag ihm mehr an der Reinigung der Stelle, wo sie aufgeschlagen ist, als an der armen Frau.«
»Kennen Sie einen Dieter Brill?«
»Dieter Brill?« Er dachte stirnrunzelnd nach.
»Nein, tut mir leid. Kenne ich nicht.«
Lenz hatte keine Fragen mehr. Er streckte dem Mann die Hand hin, um sich zu verabschieden. Wielandt griff danach und hielt sie fest.
»Ist die Ayse umgebracht worden?«
In seiner Stimme lag echtes Interesse. Offenbar hatte er die Frau wirklich gerne gehabt.
»Wie es aussieht, ja. Aber wir wissen noch nicht genug, um Ihnen jetzt mehr sagen zu können. Wenn Ihnen allerdings etwas zu Ohren kommen sollte in Bezug auf Erkrankungen der Kollegen, bitte ich um Ihren Anruf.«
Er gab ihm seine Karte.
»Mache ich, Herr Kommissar.«
Als die beiden Polizisten in den Kundenbereich der Einkaufsgalerie zurückkamen, spürten sie sofort die Veränderung. Es waren viel weniger Menschen in den Gängen vor den Geschäften unterwegs als vorher. Dafür hatte sich eine Menschenmenge im Untergeschoss versammelt, wo ein riesiger Bildschirm aufgehängt war. Lenz und Hain traten ans Geländer und sahen nach unten. Ein Nachrichtenkanal berichtete über die Ereignisse in Kassel. Der Ton war abgeschaltet, am unteren Bildrand wiederholte sich auf einem rot unterlegten Laufband ständig die Einblendung ›Terroranschlag in Kassel – Tote durch Nervenkampfstoff‹. Eine Reporterin wurde eingeblendet, die vor dem Kasseler Rathaus stand und mit ernstem Gesicht in ihr Mikrofon sprach. Dann kamen Archivbilder vom Anschlag der Aumsekte auf die U-Bahn in Tokio vor einigen Jahren.
Lenz blickte in die Gesichter der Menschen, die gebannt auf den Bildschirm starrten. Manche hielten eine Hand vor den Mund, andere schüttelten verständnislos den Kopf. Eine Frau zog ihren Begleiter am Arm. Sie wollte offenbar weggehen, aber der Mann stand unbeweglich auf der Stelle. Wie paralysiert betrachtete er, was auf dem Bildschirm über Kassel berichtet wurde.
Nicht Bagdad oder Kabul, nicht New York oder Madrid, nein, es war tatsächlich Kassel.
Hain drehte sich zu Lenz um.
»Jetzt haben wir den Salat.«
»Das kannst du laut sagen. Schau dir die Leute an, die Gesichter sagen alles.«
Wie aus dem Nichts tauchte Wielandt wieder neben ihnen auf. Er sah auf die Menschenmenge im Untergeschoss, dann auf den Bildschirm und schüttelte den Kopf.
»Jetzt wird die Ayse noch berühmt, oder?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Lenz.
»Müssen wir uns Sorgen machen, Herr Kommissar?«
Der Polizist sah ihn ernst an.
»Wie es aussieht, ja.«
17
Draußen hatte es mittlerweile angefangen zu regnen.
»Das haben wir nun davon«, maulte Hain.
Sie sprangen in einen Bus, der an der Haltestelle auf der anderen Straßenseite stand, und fuhren zum Bahnhof. Als sie dort ankamen, hatte sich der Regen in einen Hagelschauer gewandelt. Lenz schob seinen jungen Kollegen aus dem Bus in ein Wartehäuschen.
»Ich bin gleich zurück«, rief er und rannte in die Apotheke an der Ecke. Kurze Zeit später kam er mit einem großen Schirm zurück.
»Klappt immer«, entgegnete er Hains verdutztem Blick.
»Die haben so viele stehen gelassene Schirme, dass sie gerne mal einen verleihen. Ich hab das schon öfter gemacht.«
Hain fing so laut an zu lachen, dass er sich die Nase halten musste.
»Mensch Paule, du bist immer für eine Überraschung gut.«
Dicht gedrängt gingen sie am Bahnhof vorbei zum Präsidium. Im Eingang klingelte Lenz’ Mobiltelefon. Er klappte den Schirm zusammen, drückte ihn Hain in die Hand und griff in seine Jackentasche.
»Geh schon mal vor, ich komme nach.«
»Lenz«, meldete er sich,
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