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Nervenflattern

Nervenflattern

Titel: Nervenflattern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Gibert
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stellte den Kragen seiner Jacke hoch und blickte dabei nach oben, zur Spitze der wegen Sanierungsarbeiten kopflosen Figur in etwa 70 Metern Höhe. Weil ihm dabei schwindelig wurde, senkte er den Blick und setzte sich auf die oberste Stufe der Treppe, die hinunter zu den Wasserspielen führte. Mit einer Zigarette in der Hand sah er auf die Millionen Lichter der Stadt, die so seltsam friedlich aussah. Er erinnerte sich an einen Winter vor vielen Jahren, als er mit seiner geschiedenen Frau am Silvesterabend hier oben war, um mit Tausenden anderer Menschen in den letzten Minuten des alten Jahres auf die Stadt zu schauen. Umherfliegende Feuerwerkskörper hatten ihn dabei fast zum Wahnsinn getrieben. Der Blick auf die Stadt war 20 Minuten nach Anbruch des neuen Jahres dann auch nicht mehr möglich gewesen, weil der Qualm der gezündeten Knaller und Raketen zu dicht geworden war.
    Jetzt saß er da und genoss seine Zigarette und die Ruhe. Die Magistrale der Wilhelmshöher Allee, die sich wie ein Strich in die Innenstadt zog, dominierte wie immer den Blick. Lenz versuchte, in dem Gewirr der kleineren Straßen den ungefähren Standpunkt seines Hauses auszumachen, aber es gelang ihm nicht. Dafür wurde ihm schlagartig die Einsamkeit bewusst, in der er sich hier oben befand. Von der auch in der Nacht nie endenden Kakofonie Kassels kam nur ein leises Rauschen an. Er schirmte mit der linken Hand seine Augen gegen das Licht ab, um einen Blick in den dunklen Park zu werfen, der sich weit vor ihm ausbreitete, als auf dem Parkplatz weit hinter ihm eine Autotür zugeworfen wurde und eine Weile danach Schritte zu hören waren. Er hielt die Hand noch immer als Blendschutz an den Kopf, konnte aber im grellen Gegenlicht des Halogenstrahlers nicht erkennen, wer sich näherte. Die Schrittfolge wurde jetzt unterbrochen, wegen der Treppe, wie er vermutete. Dann nahm er eine schwarze Gestalt wahr, die mit einem großen Gegenstand in der Hand langsam auf ihn zukam. Das Geräusch der Schritte wurde lauter, begleitet vom rhythmischen Klimpern eines Schlüsselbundes. Als die Person noch etwa zehn Meter von ihm entfernt war, wollte er aufstehen, aber in diesem Moment wurde es schlagartig dunkel um ihn. Ein leises Klacken war zu hören. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten und sämtliche Stresshormone in sein Blut geschwemmt wurden. Sein Gefühl völliger Umnachtung wurde verstärkt, als er den Kopf drehte und auf die Stadt sehen wollte, die jedoch verschwunden war – so erschien es ihm zumindest. Die Schritte kamen immer noch näher, also war zumindest sein Gehör noch in Ordnung. Panisch drehte er sich um und suchte mit der Hand nach einem Halt, stocherte aber nur in der Luft herum, als seine Augen plötzlich von einem Lichtstrahl geblendet wurden und er eine Hand in seinem Gesicht spürte.
    »Du solltest eine Sonnenbrille tragen, wie ich«, hörte er Marias Stimme.
    Das Licht, das ihn einen Moment lang geblendet hatte, ging aus, und er spürte ihre Umarmung.
    »Du zitterst ja«, säuselte sie mit gespielter Besorgnis und streifte mit der Hand über seinen Rücken.
    Lenz brauchte einige Sekunden, bis seine Lippen wieder den Befehlen seines Gehirns folgten.
    »Sei froh, dass ich dich nicht erschossen habe«, erwiderte er erleichtert.
    »Ach was, du hast doch nie eine Knarre dabei. Was glaubst du denn, warum wir uns um diese Uhrzeit an diesem gottverdammten Ort treffen? Weil um Punkt 11 hier die Lichter ausgehen und man dann ungestört auf den Treppen ein nächtliches Picknick veranstalten kann.«
    Sie zog ihn zur Seite des Gebäudes. Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit und er erkannte, dass der Gegenstand, den er vorhin gesehen hatte, ein Korb war. Auch die Lichter der Stadt waren jetzt für ihn wieder zu erkennen.
    »Ich bin zu alt für mein Leben«, seufzte er, während sie eine Decke, eine Thermoskanne und eine gelbe Packung herausholte.
    »Ich habe an alles gedacht. Eine Decke, damit wir uns nicht verkühlen, Kaffee, damit wir warm bleiben, und Kekse, falls wir Hunger kriegen. Fehlen nur noch Vitamine, damit wir auch morgen noch kraftvoll zubeißen können.«
    Sie lachte laut los, setzte sich und zog ihn zu sich herunter.
    »Du hättest eben dein Gesicht sehen sollen, Paul. Schauderhaft. Aber jetzt weiß ich wenigstens, wie du in 50 Jahren aussiehst.«
    Er legte seinen Kopf auf ihre Schulter.
    »Was für ein Tag …«
    Sein Herz klopfte noch immer heftig, doch er hatte sich jetzt wieder unter Kontrolle.
    Sie

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