Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
ein Stückchen hochklettern«, sagte Yomi.
»Bist du verrückt geworden?«, rief Yonathan. »Noch gestern konntest du hier nicht schnell genug fortkommen.«
Yomi warf einen abschätzenden Blick zum Berg hinauf. »Ja schon. Aber vielleicht könnte ich von dort oben Sethur und seine Horde sehen, wenn sie uns tatsächlich auf den Fersen sind.«
»Und sie könnten dich genauso gut sehen wie du sie«, wandte Din-Mikkith ein. »Du würdest mit deinem blonden Schopf da oben wie ein Leuchtturm strahlen. Und du selbst würdest nur die Baumwipfel erkennen, sonst nichts.«
Yomi sagte nichts und wandte sich zum Gehen.
»Hier geht’s lang«, rief Din-Mikkith ihn zurück, das Gesicht zu seinem speziellen Lächeln verzogen.
Auch Yomi konnte ein Grinsen nicht unterdrücken und er musste zugeben: »Wenn wir dich nicht hätten, dann müssten wir uns wohl unsere Beine ziemlich kurz laufen, bis wir hier herausfänden.«
»Ich hatte zweihundert Jahre Zeit zum Herumirren«, gab Din-Mikkith zurück. »Was glaubst du, weshalb ich so viel kürzer bin als du!«
Am Abend wich allmählich das dumpfe Angstgefühl von Yonathan. Dies lag zum einen an dem Vertrauen erweckenden Abstand, den sie inzwischen zum Glühenden Berg gewonnen hatten, zum anderen aber auch an seiner Erschöpfung, die kaum Platz ließ für andere Gefühle.
Nachdem sie den reizbaren Berg passiert hatten, betraten die drei Gefährten das östliche von zwei Tälern, die am südlichen, steinigen Hang des Vulkans zusammenliefen. Der Regen hatte mittlerweile aufgehört und so konnten die Wanderer wieder die gewohnte Wolkendecke über sich sehen, die wie ein Deckel auf dem Verborgenen Land lag.
Din-Mikkiths Wahl für ihr Nachtlager war auf einen hohlen, toten Baum gefallen, der wie ein riesiges Skelett die kleineren Nadelbäume überragte.
»Ich habe den ganzen Tag keinen so großen Baum hier oben gesehen«, sagte Yonathan misstrauisch. »Wie ist er hierhergekommen?«
»Du musst dich nicht sorgen«, beruhigte ihn Din-Mikkith, der wohl Yonathans verborgene Befürchtungen erahnte. »Manchmal bringt ein Vogel Samen in seinem Kot mit. Und wenn es ein besonders starkes Samen ist, dann wird auch mal ein solches Baum daraus, selbst wenn dies nicht das beste Gebiet für diese Art von Bäumen ist.«
»Warum ist er eingegangen?«, schaltete sich Yomi ein, der sein Andenken an den Baum Zephon noch im Gesicht trug. »Er sieht irgendwie… unheimlich aus.«
Din-Mikkith kicherte leise in sich hinein. »Ein Blitz, das ist alles. Das Einzige, was uns kümmern sollte, ist der Glühende Berg.«
Yonathan wurde hellhörig. »Aber sind wir denn nicht inzwischen weit genug entfernt?«
»Wenn er richtig wütend wird, dann nicht.«
»Na, hoffentlich kann er sich noch ein wenig beherrschen.«
»Ich könnte ja mal auf den Baum klettern und schauen, ob ich etwas erkennen kann«, schlug Yomi vor.
Yonathan und Din-Mikkith seufzten. »Klettere nur«, meinte der Behmisch. »Aber häng dir den Umhang über und steig nicht weiter hinauf als unbedingt nötig.«
Das ließ Yomi sich nicht zweimal sagen. Im Nu hatte er sich den Wasser abweisenden Mantel übergeworfen und kletterte den knorrigen Baum hinauf. Etwa auf halber Höhe spähte er nach Norden.
»Er glüht noch immer«, raunte Yomi seinen Freunden zu. »Es ist ziemlich hell – und rot. Ich schätze, er leuchtet doppelt so hell wie gestern Abend.«
Yonathan warf Din-Mikkith einen besorgten Blick zu.
»Kannst du sonst etwas erkennen?«, zischte der Behmisch in die Höhe. Inzwischen senkte sich die Nacht in den Regenwald und Yomi war nur noch schwer auszumachen.
»Nein, nichts.«
»Dann komm lieber wieder runter. Sonst wird es gleich so finster sein, dass du auf dem Baum übernachten musst.«
Yonathan konnte gerade noch erkennen, wie sich Yomis langer Körper mit sicheren Bewegungen abwärts hangelte. Alsder Seemann vom untersten der dicken Äste aus nach einem Halt suchte, um die letzten zehn Fuß am Stamm herabzuklettern, flammte plötzlich ein heller Schein am Horizont auf. Das dunkle Skelett des Baumes erstrahlte in einem unheimlichen, roten Licht. Nur wenige Herzschläge später begann der Erdboden zu zittern. Ein schnell stärker werdendes Schütteln riss Yonathan und Din-Mikkith von den Beinen. Aus weiter Ferne ertönte ein dumpfes Grollen, direkt über ihren Köpfen ein erschrockener Aufschrei.
Als Yonathan in die Höhe blickte, konnte er gerade noch erkennen, wie Yomi von dem Ast rutschte und herabstürzte. Wäre der Waldboden
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