Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
am Fuß berührt.«
»Was erzählst du da?«, warf Yonathan ein.
»Ich erzähle keinen Unsinn, Yonathan.« Das Zittern in Yomis Stimme wurde stärker. »Es hält mich immer noch fest. Es sind die Toten ›der Verfluchten‹. Sie kommen, um mich zu sich herunterzuziehen. Kaldek erzählte mir einmal, dass die Seelen der Bösen niemals zur Ruhe kommen. Jetzt hocken sie da unten und verlangen mich als Pfand, damit ihr den See überqueren dürft.«
»So ein Blödsinn, Yo. Das ist wieder so eine Geschichte von euch Seeleuten, stimmt’s?«
»Sei nicht so barsch mit ihm«, mahnte Din-Mikkith und legte Yonathan die Hand auf die Schulter.
Weniger heftig fuhr Yonathan fort: »Hast du mir nicht erzählt, dein Vater hätte dir in deiner Kindheit aus dem Sepher Schophetim vorgelesen?«
»Ja, natürlich hat er das. Ziemlich oft sogar.«
»Und du erinnerst dich gar nicht mehr, was darin über die Toten geschrieben steht? ›Die Toten kehren zurück zu dem Staub, aus dem sie gekommen sind. Ihr Wirken, ihr Planen ist vergangen und die Erinnerung an sie weht davon wie die Spreu im Wind. Ihr Teil ist das Nichts und sie werden nimmermehr wandeln auf der Oberfläche Neschans, bis Yehwoh sie ruft und sie hören werden auf seine Stimme.‹«
Yomi hatte stumm die Lippen zu den Versen aus dem alten Buch der Richter Neschans mitbewegt. Er erinnerte sich sehr genau an diese Worte. Doch dann schrie er wieder. »Aber es ist trotzdem da!«
Din-Mikkith stürzte zu ihm und hielt ihm die Hand vor den Mund. Yonathan sagte: »Ich will deinem Geist mal die Hand schütteln.«
Es dauerte nicht lang, da hatte Yonathan die Ursache für Yomis Aufregung gefunden: Der Zweig eines Strauches musste vom Wind hergetrieben worden sein. Yomis Fußgelenk hatte sich in dem Astwerk verfangen. »Wem glaubst du jetzt,
deinem abergläubischen Seemannsgarn oder dem Sepher?«
Yomi schwieg.
Nachdem sich Yonathan beruhigt hatte, fügte er hinzu: »Na ja, ich hätte vielleicht genauso reagiert, wenn ich bei so einem alten Schlitzohr wie deinem Kaldek aufgewachsen wäre.«
»Höre mal!«, empörte sich Yomi, vom Schrecken erholt. »Kaldek ist kein Schlitzohr.«
»Schon gut, schon gut«, lenkte Yonathan wieder ein. »Sagen wir einfach: Er ist mit ziemlich allen Wassern gewaschen. Einverstanden?«
Yomi überlegte einen Augenblick. Dann grinste er. »Sagen wir besser: Er ist mit unheimlich vielen Wassern gewaschen.« Ihr Lachen verlor sich in der Dunkelheit. Gerade wollte Yonathan das von Yomis Fuß entfernte Geäst mit einer weit ausholenden Armbewegung davonschleudern, da hörte er Din-Mikkiths Stimme neben seinem Ohr. »Gib mir die Zweige, Kleines.«
»Wieso? Was willst du denn damit anfangen?«
»Ich weiß es selbst noch nicht so genau. Ich habe das Gefühl, wir könnten sie noch brauchen.«
Yonathans Herz pochte bis zum Hals hinauf. Sein Atem ging schnell und stoßweise. Yomi ging es nicht viel besser. Din-Mikkith hatte sie zu größter Eile angetrieben. In den Gipfeln der jetzt nicht mehr so fernen Bergen zeigte sich das erste Tageslicht.
»Wir schaffen es nicht«, keuchte Yomi. »Es wird schon hell!«
»Es hilft aber auch nichts, unser Unglück zu beklagen«, erwiderte Din-Mikkith. »Nimm deine Beine in die Hand und lauf! Wir müssen so schnell wie möglich von dem See herunter.«
»Aber wir können nicht mehr, Din«, klagte Yonathan. »Wir sind völlig erschöpft. Können wir nicht wenigstens eine ganz kurze Pause machen?«
»Wenn wir die Klippen da vorne am Seeufer erreicht haben, dann können wir uns ausruhen. Vorher nicht!«
Yonathan und Yomi ergaben sich seufzend ihrem Los – und marschierten weiter.
Der Himmel wurde immer heller. Nie zuvor hatte Yonathan sich so sehr die Nacht herbeigewünscht. Aber die unsichtbar hinter den Wolken versteckte Sonnenscheibe hatte kein Einsehen. Unbarmherzig kletterte sie auf ihrer Bahn empor und mit jedem Atemzug traten die drei winzigen Pünktchen auf der weißen Oberfläche des Sees deutlicher zutage.
Der See lief an diesem Ende des Talkessels zu einem schmalen, von hohen Felswänden umsäumten Schlauch aus. Die Seeufer waren baum-und strauchlos. Zunächst ragte nur blankes Gestein aus dem kranken Erdreich hervor. Es erinnerte an gebleichte Gebeine. Eine halbe Meile dahinter begannen Grasmatten in kränklichem Grün den Boden zu überziehen. An dieser Stelle wählte Din-Mikkith den Lagerplatz, in einem Einschnitt, der sich wie von einer gewaltigen Axt geschlagen durch die über ihnen liegende Felswand zog
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