Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Vielleicht hat das Verborgene Land seinen Namen daher, dass es nie von der Sonne beschienen wird.«
»Yomi«, sagte Yonathan, »dein Unken hilft uns auch nicht weiter. Sieh mal, das Verborgene Land liegt genauso unter der Sonne wie jedes andere auch. In der Höhle haben wir einfach unser Zeitgefühl verloren. Wir wissen auch nicht, wie lange wir geschlafen haben. Jetzt ist es eben Nacht und morgen früh wirst du zu den wenigen Menschen zählen, die jemals das Verborgene Land mit eigenen Augen gesehen haben. Ist das nicht toll!«
»Hm.«
»Komm jetzt, Yo, wir gehn einfach mal los.«
Da es noch zu dunkel war, um etwas zu erkennen, nahm Yonathan wieder seinen Wandernden Sinn zu Hilfe. Yomi trottete gedankenversunken hinterdrein. Noch immer waren sie mit dem Seil verbunden.
Nachdem sie etwa eine Viertelmeile abgestiegen waren, wandte Yomi sich um. »Yonathan«, raunte er schaudernd, »die Augen!«
Auch Yonathan schaute zurück und sah, was Yomi meinte. Von dort, wo sie den Berg verlassen hatten, schienen ihnen zwei übergroße Augen nachzuschauen. Der lange waagerechte Spalt, durch den sie ins Freie gelangt waren, wurde von Felsen teilweise so verstellt, dass es von unterhalb den Eindruck zweier getrennter, mandelförmiger Öffnungen erweckte, jede in ihrer Mitte mit einem dunklen Fleck – einer Pupille – versehen.
»Also steckt doch mehr in dem alten Gedicht, als wir geglaubt hatten«, bemerkte Yomi.
»Gerade genug, um die Augen echt aussehen zu lassen. Aber sie sind es nicht, Yomi. Es ist nur ein Loch im Berg, das uns nicht aufhalten konnte.«
Yonathan setzte sich wieder in Bewegung und Yomi stolperte hinterher. Eine Bemerkung jedoch konnte er sich nicht verkneifen: »Das waren die ersten zwei Wächter. Fünf andere warten noch auf uns.«
Ihr Abstieg dauerte kaum eine halbe Stunde, da bemerkten Yonathan und Yomi erleichtert, dass sich der Himmel von Osten her aufhellte. Zuerst hielten sie es nur für eine Gewöhnung ihrer Augen an die Dunkelheit, aber schon bald verdrängte das Tageslicht die Schatten der Nacht und offenbarte ihnen einen phantastischen Ausblick: ein endloses grünes Meer, das sich im Süden und im Westen bis zum Horizont erstreckte. Dichter Pflanzenbewuchs verbarg den Erdboden vor ihren forschenden Blicken. Über dem Blätterdach des Waldes lag zarter Dunst. Laute fremdartigen Lebens drangen zu ihnen herauf. Im Osten sahen sie, wie Yonathan vorausgesagt hatte, eine dunkle Bergkette, deren Kamm in den Wolken verschwand und die sich weit im Süden dem Auge entzog. Das ganze Land bildete einen gewaltigen Kessel, dessen Wände die Berge und dessen Deckel ein Dach aus Wolken war. Auf der anderen Seite des Ewigen Wehrs zog jetzt der Herbst ein, der der Sonne nur noch für kurze Zeit des Tages erlaubte wohlige Wärme zu spenden. Hier jedoch war es selbst in der ausgehenden Nacht noch schwülwarm. Was würde sie erst erwarten, wenn der Mittag käme?
Inzwischen hatte sich niedriges Buschwerk zu dem kargen Grasbewuchs der Berghänge gesellt. Mit jedem Schritt, den sie ins Tal hinabstiegen, erwärmte sich die Luft mehr.
Nach etwa zwei Stunden legten sie ihre erste Rast ein. Schweigend saßen sie nebeneinander und nahmen einen Imbiss aus Yonathans Wunderbeutel. Wasser gab es genug, es plätscherte überall die Hänge hinab. Vor ihnen lag – fast wie mit dem Lineal gezogen – die Baumgrenze, die eine neue Schwierigkeit offenbarte.
»Wenn wir in den Wald eindringen, werden wir Probleme haben uns zurechtzufinden«, stellte Yomi fest.
»Du hast Recht. Die Baumkronen verbergen den Blick auf das Drachengebirge und den Stand der Sonne werden wir hinter dem dichten Wolkenteppich bald auch nicht mehr ausmachen können.« Yonathan blickte zum Himmel. In unerreichbarer Höhe zog die schwarze Silhouette eines Vogels ihre Kreise.
»Meinst du, du könntest mit…« Yomi machte eine kreisende Handbewegung um seinen Kopf herum.
»Mit dem Wandernden Sinn meinst du? Ich weiß nicht. Ich habe mit ihm bisher nur meine direkte Umgebung erfühlen können. Aber das Drachengebirge ist, fürchte ich, zu weit entfernt.
Notfalls wirst du eben noch ein paar Mal deine Kletterkünste unter Beweis stellen müssen, Yo.«
Yomis Augen blitzten auf, als würde ihm der Gedanke Vergnügen bereiten. »Was wird uns wohl in dem Wald erwarten? Er gibt so merkwürdige Geräusche von sich.«
»Lass uns den Augenblick bewältigen…«, begann Yonathan das alte Sprichwort.
»… auf dass der nächste reicht uns seine Hand«,
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