Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
sich befreien. Aber Yonathan ließ ihn nicht. Er erwiderte lächelnd den erschrockenen Blick des Männchens.
»Ich möchte dir eine Geschichte erzählen, Belvin. Vieles von der Geschichte ist ein Geheimnis, aber ich weiß, dass du dieses Vertrauen verdienst. Ich erzähle sie dir, weil sie dich trösten mag- auch mir hat sie einmal geholfen eine verkehrte Ansicht zu korrigieren: Im Verborgenen Land gibt es ein erstaunliches kleines Insekt; man nennt es die Prachtbiene.«
Yonathan erzählte nun, was er vor noch gar nicht allzu langer Zeit in Gesellschaft Din-Mikkiths erlebt hatte. Er erzählte von der unvorsichtigen, grün funkelnden Biene, die sich in ihrer Sorge, für die Braut ein passendes Parfüm zu finden, von einer Blume fangen ließ. Dadurch zahlte sie den Preis für ihr duftendes Hochzeitsgeschenk: eine Prise von Pollen, die sie mit zu der nächsten Blüte trägt.
»So hat die Biene gleich zweimal für Nachwuchs gesorgt«, schloss er seinen Bericht. »Einmal bei ihrer eigenen Art und zum anderen bei den herrlich roten, duftenden Blumen des Verborgenen Landes.«
»Deine Geschichte ist schön, Yonathan«, sagte Belvin, und es klang so, als koste es ihn viel Kraft sich aus dem Zauber der Erzählung zu lösen.
»Weißt du auch, warum ich dir von den Prachtbienen erzählt habe, Belvin?«
Der Glasmacher verneinte, aber es klang nach einem Ja.
Yonathan lächelte. »Ich glaube, du ähnelst in vielem diesem kleinen Bienenmännchen, das für einen einzigen Gedanken alles andere vergisst. Damals, in der Glasmacherwerkstatt, lebtest du nur für deine Kunst. Sie sollte etwas Vollkommenes sein. Wahrscheinlich dachtest du nur an die wunderschönen, zerbrechlichen Kunstwerke, die du erschaffen könntest und die andere erfreuen würden. Dabei hast du schließlich alle Vorsicht vergessen, was dazu führte, dass dieser schreckliche Unfall geschah, durch den einer deiner Gesellen sein Augenlicht verlor. Als du dir deiner Schuld bewusst wurdest, konntest du an nichts anderes mehr denken. Deshalb hasstest du dich. Am Ende vermochtest du selbst das Wörtchen ›Ich‹ nicht mehr auszusprechen. Du wolltest nichts mehr mit jenem Belvin zu tun haben, der diese verabscheuenswürdige Tat beging.«
Für eine Weile herrschte Schweigen. Belvin, der Yonathans Worten mit gesenktem Blick gelauscht hatte, neigte den Kopf zu Felin hin. »Habt Ihr ihm das alles erzählt?«
Felin schüttelte langsam den Kopf. »Lange nicht so viel, Belvin. Lange nicht so viel.«
»Deine Besessenheit«, fuhr Yonathan fort, »mit der du stets deinen Vorstellungen gefolgt bist, hat dich in große Schwierigkeiten gebracht. Aber du hast dein Leben bewahrt! Jetzt verlasse diesen Kerker, gehe wieder ans Licht und bringe anderen Menschen Freude. Zeige den jungen Glasmachern, was ein alter Meister ist. Deine Hände sind vielleicht nicht mehr so ruhig, aber ich bin sicher, dass die Jungen noch immer aus deiner Erfahrung lernen können.«
Tatsächlich zeigte sich eine Reaktion in den schwarzen Knopfaugen Belvins. Sie begannen in der Tiefe zu funkeln wie zwei polierte Obsidiane. »Aber der Kaiser wird Belvin nicht mehr ans Glas lassen«, wandte er ein; doch das klang schon so, als wolle er über die Bedingungen seiner Freilassung verhandeln.
Yonathan antwortete behutsam: »Jenem alten Belvin, von dem du sprichst, mag er es verwehren, aber ich bin mir sicher, dass er dem neuen Belvin, der seine Augen dem Licht öffnet und der wieder ›Ich‹ sagen kann, einen Platz in seiner Glasmacherwerkstatt anbieten wird.«
Und Yonathan wusste, dass es so kommen würde. Er ahnte schon seit einiger Zeit, dass er nicht zu einer Schlossbesichtigung in den Sedin-Palast geladen worden war. Man wollte ein Spiel mit ihm treiben, wollte den Stab Haschevet für gänzlich unheilige Zwecke benutzen; ebenso, wie man Felin nur benutzt hatte, um Yonathan an die Fäden zu knüpfen, die ihn zu einer willenlosen Marionette machen sollten. Doch nun, da er die Puppenspieler durchschaut hatte, konnte er diese Fäden durchschneiden – zu gegebener Zeit. Jetzt musste er sich zunächst um Belvins Problem kümmern.
Der Kerkermeister sprach ganz langsam, als müsse er die Sprache erst lernen. »Also gut«, sagte er, »dann lassen wir den alten Belvin hier unten und ich gehe derweil mit euch beiden nach oben.«
Yonathan strahlte. Tränen standen in seinen Augen. Er fühlte sich erleichtert, glaubte, noch nie in seinem Leben so gesprochen zu haben. Es war, als hätte er Belvin eine Brücke aus
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