Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
er nun, an der Tafel des Kaisers, und genoss nicht mehr Beachtung als die abgenagten Knochen, die sich auf dem Tisch häuften. Zirgis hatte ihn durch einen plumpen Trick von seinen Freunden getrennt und leicht konnte man sich ausmalen, zu welchem Zweck. Doch Yonathan würde das Spiel nach seinen eigenen Regeln gestalten. Er wartete nur auf den passenden Zeitpunkt.
»Ich möchte nun die Gelegenheit ergreifen und einen jungen Mann vorstellen, den eine lange Reise zu uns geführt hat«, begann plötzlich der Kaiser, während die Dienerschar sich rührig abmühte, an der Tafel Ordnung zu schaffen.
Aha, dachte Yonathan, jetzt kommt’s also doch noch. Bin gespannt, wie er seine Gemeinheiten erklären wird.
»Ich habe dafür gesorgt, dass dieser Knabe mit Namen Yonathan, Sohn des Navran Yaschmon, heute – und ich hoffe, noch für eine geraume Zeit – unser Gast sein wird.«
Yonathan war verblüfft. Mit einem solch offenen Geständnis hatte er nicht gerechnet.
Zirgis gab der Dienerschaft einen Wink, den Saal zu räumen, und fuhr daraufhin fort: »Nun mögt ihr euch sicher fragen, meine werten Freunde, geschätzten Ratgeber und treuen Diener, was mich dazu bewogen hat, einen Knaben, der offenbar nicht einmal aus edlem Hause stammt, an meinen Tisch zu rufen.«
Im Raum war es so still, dass man eine zu Boden fallende Gräte hätte hören können; nur das Kritzeln Barasadans störte etwas das vollkommene Schweigen.
Nach einer kurzen Pause zur Hebung der Spannung erklärte Zirgis: »Dieser Yonathan bringt uns Haschevet, den Stab der Richter Neschans. Ich glaube, das ist Grund genug ihn hier zu haben.«
Allgemeines Raunen zog wie eine Windbö durch den Raum. Selbst Barasadan unterbrach sein Kritzeln und schenkte Zirgis einen missmutigen Blick.
»Ich weiß«, fuhr der Kaiser fort, »dass nicht alle hier im Raum die volle Tragweite dieses glücklichen Umstandes erfassen – sie vielleicht auch nicht verstehen wollen –, aber bedenkt bitte, dass der Richter Goel und sein Stab im Volk noch immer großes Ansehen genießen, und das, obwohl – man möge mir dieses Wortspiel nachsehen – in den letzten zweihundert Jahren kaum jemand dieses Richters ansichtig geworden ist.«
»Wie bist du denn an diesen Knaben und seinen Stab geraten?«, fragte der Herzog von Doldoban und Yonathan wunderte sich über den vertrauten Tonfall, mit dem der betagte Mann den Kaiser ansprach.
»Das erzählt dir am besten der General«, erwiderte Zirgis und bedachte Targith mit einem auffordernden Blick.
General Targith räusperte sich. Er war ein großer, wohlbeleibter Mann mit einem dichten schwarzen Bart. Seine dunkelbraunen Augen blitzten listig und ein zufriedenes Lächeln lag auf seinen Lippen.
»Vor nunmehr achtzehn Tagen beschatteten Karbath mit einigen meiner Leute in Meresin einen Mann, von dem wir vermuten, dass er zu Sethur gehört oder zumindest mit ihm zusammenarbeitet. Sein Name lautet Ason. Er ist, soweit wir wissen, ein ehemaliger Pirat, der sich nun jedem verdingt, der den richtigen Preis zahlt. Karbath und seine Leute waren Ason bis vor die Stadtmauern gefolgt. Dort begann gerade ein Geschichtenerzähler mit seiner Vorstellung. Ason war unachtsam, weil er eine Gruppe von Personen beobachtete: zwei junge Männer und einen vierzehn- oder fünfzehnjährigen Knaben. Ich staunte nicht schlecht, als Karbath mir erzählte, dass einer der von Ason bespitzelten Männer ganz offensichtlich Yomi, der Ziehsohn Kaldeks war.«
»Des Kapitäns der Weltwind, der der Sohn vom alten Admiral Balek ist?«, fiel Fürst Melin-Barodesch dem General ins Wort.
Targith nickte. »Genau der. Die Hetzjagd der Weltwind durch Sethurs Narga ist Stadtgespräch; wir alle kennen die Geschichte. Yomi und ein Junge – der einzige Passagier der Weltwind – waren dabei über Bord gegangen und galten als tot. Ihr könnt Euch vorstellen, meine Herren, dass es für einige Aufregung sorgte, als ebendieser Yomi in Meresin gesichtet wurde.«
Yonathan war erstaunt darüber, wie bekannt sein Freund war. Andererseits passte es zu dessen unbekümmertem Wesen, dass er davon nicht viel Aufhebens machte.
»Würdet Ihr nun bitte auf den Kern Eurer Beobachtungen kommen«, drängte der Kaiser.
»Sofort, Hoheit. Als nun der Erzähler seine Geschichte beendet hatte, suchte er wie üblich den Tugendverkünder. Der Blick des Alten blieb am jüngeren der Begleiter Yomis hängen, und zwar ›wie gebannt‹, wie es im Bericht heißt. Der Knabe hatte sich erhoben und aus einem
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