Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
noch einiges mehr. Ich habe ihn heute zu diesem Mahl eingeladen, weil er die Organisation der Feierlichkeiten anlässlich des Kronjubiläums leitet.«
Fürst Phequddath entspannte sich ein wenig. Yonathan hatte den Eindruck, dass dieser Hofmarschall ein sehr kleinlicher Mann war, dem die Regeln höfischer Ordnung alles bedeuteten.
Er wandte sich an den Kaiser. »Hoheit, ich betrachte Eure ›Einladung‹ als eine große Ehre und ich danke Euch dafür. Auch will ich nicht länger bestreiten, dass ich in diesem Behälter hier Haschevet aufbewahrt habe. Aber leider ist mein Ziel nicht Cedanor – jedenfalls nicht mein endgültiges Ziel.«
»Dann nenne mir dein Ziel, junger Freund«, verlangte der Kaiser.
Was die alten Prophezeiungen über Haschevets Bestimmung verhießen, war kein Geheimnis. Daher erwiderte Yonathan in höflichen Worten: »Wie Ihr, Hoheit, die verehrungswürdige Kaiserin und die edlen Herren hier am Tische ohne Frage wissen, enthält das sechste Buch des Sepher Schophetim eine Weissagung mit folgendem Wortlaut: ›Drei mal siebzig Jahre wirst du mir noch als Richter dienen… So wie du den Stab Haschevet verloren hast, so nehme ich dir die Hälfte der Richtermacht. Nur die Weisheit lasse ich dir, damit du Recht sprechest unter meinen Dienern. Du wirst den Garten der Weisheit nie mehr verlassen. Jedoch sollst du den Stab Haschevet wieder sehen, um ihn Geschart zu übergeben, damit er in meinem Namen Gerechtigkeit und Frieden für alle Völker Neschans ausrufen wird.‹ Da Goel den Garten der Weisheit nie mehr verlassen darf, muss Haschevet wohl zu ihm gebracht werden, damit er vom sechsten an den siebten Richter übergeben werden kann. Ihr seht, Hoheit, der Weg des Stabes ist seit über zweihundert Jahren vorherbestimmt. Er darf nicht hier im Palast enden, er muss in den Garten der Weisheit führen.« Yonathan holte tief Luft. Diese Erklärung hatte ihn viel Kraft gekostet. Aber er war mit sich zufrieden.
Zirgis’ lapidare Antwort erschütterte ihn dafür umso mehr.
»Das ist überhaupt nicht sicher, eigentlich sogar eher unwahrscheinlich.«
»Wie könnt Ihr Euch da so sicher sein, Vater?«, fragte der Prinz, als er Yonathans entgeisterten Blick bemerkte.
»Ganz einfach. Vom siebten Richter wird vorhergesagt, dass er nie sterben würde, wenn es ihm gelänge, die dunklen Mächte zu besiegen und Neschan durch die Weltentaufe zu ewigem Frieden zu führen. Ich meine, dass sich dies nicht auf einen einzelnen Menschen beziehen kann. Selbst wenn es stimmt, dass die Richter Hunderte von Jahren lebten, so mussten sie doch schließlich sterben. Doch der siebte Richter soll ewig leben können?«
»Und welchen Schluss zieht Ihr daraus?«, erkundigte sich Felin.
»Der siebte Richter ist nur ein Sinnbild für eine ewige Dynastie von Herrschern, die dem Volk Frieden und Wohlstand sichert.«
Langsam dämmerte es Yonathan. Anfangs hatte er vermutet, Zirgis wolle die Macht Yehwohs überlisten, um den Stab Haschevet an den Sedin-Palast zu binden und damit gleichzeitig die Macht des Koach und den Segen Yehwohs untrennbar mit dem Herrscherhaus zu verschmelzen. Doch er hätte es besser wissen müssen. Der Kaiser war zu klug einen solch wahnwitzigen Plan zu verfolgen. Niemals würde sich Yehwoh einem fremden Willen unterwerfen! Das wusste selbst Zirgis, wenn seine Gottesfurcht auch nicht allzu groß sein mochte.
Aber dennoch hatte sich der Kaiser in einer Schlinge fangen lassen: Er überschätzte seinen eigenen Verstand. Die Geschichte war voll von solch grandiosen Irrtümern – Produkte blinder Überzeugungen und überheblicher Selbsteinschätzung, die den Blick für das Offensichtliche, für die oftmals kindlich einfache (und für einen gebildeten Verstand gerade deshalb unakzeptable) Wahrheit versperrten. Yonathan mochte sich lieber nicht ausmalen, welche Schwierigkeiten für ihn aus solchem Größenwahn erwachsen konnten. Jedenfalls hatte es wohl wenig Sinn an das Gewissen und Verantwortungsbewusstsein des Kaisers zu appellieren.
Während Yonathan nach Fassung rang, erklärte Zirgis, wie er den Sinn der alten Prophezeiungen verstand: Nur durch die Vereinigung der Macht von Kaiser und Richter sei jene ewige Beständigkeit zu erzielen, die in dem Sinnbild des siebten Richters veranschaulicht wurde.
Felin folgte den Ausführungen seines Vaters mit ernster Miene. Einmal stieß er Yonathan unter dem Tisch mit dem Knie an, vielleicht, um ihm Mut zu machen oder um ihn von unkontrollierten Ausbrüchen abzuhalten.
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