Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
wenn sie den Schwarzen Tempel niederreißen würden, könnte das Unheil noch abgewendet werden. Es kam zu einem großen Gemetzel in der Stadt. Einigen gelang es tatsächlich, im Tempel Feuer zu legen. Daraufhin stürzte die Ostmauer des unseligen Bauwerks ein. Die götzendienerische Anbetungsstätte wurde geschändet, wie es Elir prophezeit hatte. Noch ehe Yehwohs Fluch die Bewohner der Stadt-mit-dem-vergessenen-Namen hinwegraffte, brachten sich viele gegenseitig um. Ganze Ortsteile wurden niedergebrannt und Teile der Stadtmauern geschliffen. So bekam das ehemalige Juwel am Cedan seinen heutigen Namen: Abbadon, ›Ort der Vernichtung‹.«
Nur mit Mühe konnte Yonathan seine Augen von diesem Ort lösen. Vor allem die Ruinen des Schwarzen Tempels übten einen beunruhigenden Zwang auf ihn aus. Seine Hand suchte nach dem Stab Haschevet und umklammerte ihn mit festem Griff. Vielleicht lag dieser Sog, der seine ganze Aufmerksamkeit fesselte, einfach daran, dass dort unten etwas stand, das seit mehr als zweitausend Jahren die Feindschaft zwischen dem Licht Yehwohs und der Finsternis Melech-Arez’ repräsentierte. Weit im Norden, in seiner Heimat, waren die Verhältnisse klarer. Dort gab es einfache Menschen, die sich alle mehr oder weniger ernsthaft zu Yehwoh bekannten. Ja, bis zu seinem Abreisetag hatte Yonathan nicht einmal einen jener Priester Temánahs zu Gesicht bekommen, die die Farbe dieses Tempels dort in einen Ort nach dem anderen trugen.
Aber hier war das anders. Hier konnte man den unheilvollen Einfluss des dunklen Reiches spüren – und sehen! –, obwohl dieser Ort und der Tempel für viele Bewohner Neschans nur eine Legende war.
»Kommt, wir müssen weiter«, ermunterte Yehsir die Gefährten.
Obgleich sie nur eine kurze Mittagsrast eingelegt hatten, erreichten sie den Lagerplatz erst bei Sonnenuntergang. Yehsir hatte einen Umweg gewählt, damit die auffällige Silhouette, die sie mit ihren vielen Tieren in den Horizont stanzten, vom anderen Ufer des Cedan nicht zu sehen wäre. Die Reiter und ihre angeleinten Packtiere hielten sich ständig im Schutz von Erdsenken und kleineren Erhebungen, sodass kaum einem zufälligen Beobachter – wahrscheinlich nicht einmal einem aufmerksamen Späher –, der am anderen Ufer des breiten Stromes stehen mochte, etwas aufgefallen wäre.
Ihr Nachtlager schlugen sie in einer Mulde auf, die etwa auf halber Strecke zwischen dem Fluss und den ersten Ruinen des ehemaligen Hafenviertels lag. Jemand, der in einer Entfernung von einem Bogenschuss an dieser Stelle vorbeigeritten wäre, hätte sicher nicht einmal geahnt, dass ganz in seiner Nähe fünf Menschen, siebenundzwanzig Pferde, ein Lemak und ein Masch-Masch lagerten. Trotzdem bestand Yehsir darauf, an diesem Abend kein Feuer zu entzünden. So begnügte man sich notgedrungen mit einem kalten Mahl. Jeder kaute schweigend vor sich hin und verfolgte die immer länger werdenden Schatten, die von den nahe liegenden Gebäuden herübergeworfen wurden.
Als die Sonne auf der anderen Seite Abbadons endgültig in den Wüstensand eintauchte, befand sich das Nachtlager schon lange in tiefem Dunkel. Ob der Eindruck nun aus dem Fluch Yehwohs erwuchs oder ganz einfach aus den ungünstigen Lichtverhältnissen, konnte man schlecht einschätzen, jedenfalls boten die verfallenen Häuser und die dahinter liegenden Stadtmauern das Bild einer zusammengeschmolzenen Maske – gesichtslos, finster und erdrückend –, aus der nur hier und da drohend die noch schwärzeren Augen leerer Fenster, Türen und Breschen auf die Eindringlinge herabstarrten.
»Ich glaube, ich kann erst wieder richtig atmen, wenn wir diesem Ort den Rücken gekehrt haben«, brummte Gimbar.
»Zumindest sind wir heute Sethur nicht begegnet und hier wird er uns wohl auch nicht suchen«, stellte Yehsir fest.
Doch solche Äußerungen konnten die Stimmung kaum heben. Ein wenig Ablenkung brachte das Tränken der Pferde.
Die Tiere waren während der letzten Meilen, als die Karawane dem Lauf des Cedan folgte, kaum zu zügeln gewesen. Sie hatten das Wasser des nahen Stroms gewittert. Beim Aufschlagen des Nachtlagers wären sie fast durchgegangen, so nervös waren sie. Als endlich das letzte Tageslicht erlosch, kamen sie zu ihrem Recht und sie soffen, was das Zeug hielt.
Auch die Menschen nutzten die lang entbehrte Möglichkeit und gönnten sich eine gründliche Wäsche, sowohl von außen als auch von innen. Selbst die Wasserschläuche durften sich voll saugen, wenn auch ein gut
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