Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
Yonathans Schritt. Er kämpfte mit Furcht, die wie bleierne Kugeln an seinen Füße hing. Der Schatten sah wirklich menschenähnlich aus. Aber er rührte sich noch immer nicht. Den Stab Haschevet fest umklammert, wagte Yonathan den letzten Schritt.
Er stand vor einer Säule aus Stein, die in Größe und Form Ähnlichkeit mit Yomi besaß. Mehr konnte er in der Dunkelheit nicht erkennen. Vermutlich hatte der jahrhundertelange Wechsel von Wind, Regen und Hitze wie ein Steinmetz gewirkt und schließlich diese menschenähnliche Form geschaffen. Yonathan fröstelte. Er schlang sich den Umhang enger um den Leib, aber das half auch nicht viel. Mit Mühe löste er den Blick von der unheimlichen Steinfigur und spähte die Gasse hinauf, so weit es das schwache Licht zuließ.
Weiter oben sah man die dunklen Umrisse der halb eingefallenen Stadtmauer. Was sollte er jetzt tun? Weitergehen, nach Abbadon hinein? Nein, was sollte das für einen Sinn haben? Vielleicht war Yomi wirklich, von irgendeiner verrückten Idee getrieben, in die verfluchte Stadt hineingegangen. Schlimm. Sehr schlimm!
Aber ihn dort suchen, allein und zu dieser finsteren Stunde… Yonathan musste Hilfe holen.
Da! Wieder vernahm er das Schaben… Rauschen… Rufen? Beinahe hätte er geglaubt seinen Namen zu hören. Von den Schultern, über den Hals, bis hinauf zu den Haarspitzen überfiel ihn ein heftiges Prickeln. Er spähte noch einmal genauer zu der Bresche in der nahen Stadtmauer. War da nicht eben eine Bewegung gewesen?
»Yomi?«, rief er zaghaft. Yonathan ging weiter auf die Schattengestalt zu. Sie war groß und schmal, genau wie sein Freund. Als er sich ihr auf zehn Schritte genähert hatte, verschwand sie hinter der Mauer. Yonathan schwankte zwischen Ärger und Bangen. Er kletterte über einige Steinbrocken hinweg. Jetzt war er im inneren Bereich der Stadt Abbadon.
Er fand sich auf einem weiten Platz, in den mehrere Straßen mündeten. Dunkle Gebäude, leere Fassaden und Ruinen reihten sich in den Gassen aneinander. Reste von umgestürzten Hauswänden lagen herum und überall standen merkwürdige Säulen in Menschengröße, eine schlafende Bevölkerung, die jederzeit wieder erwachen konnte.
Und da war er wieder, der dürre Schatten. Er eilte auf eine der Straßen zu. Warte ab, mein Freund, jetzt krieg ich dich!, dachte Yonathan und griff Haschevet fester. Mit seiner Hilfe würde er die Gestalt auch im Dunkeln nicht verlieren. Wenn sich Yomi hier mit ihm einen Scherz erlaubte, dann konnte er sich auf etwas gefasst machen. Und wenn es nicht Yomi war…? Yonathan schluckte.
Bald waren die Gassen und die Gebäude um ihn her in bläuliches Licht getaucht. Das Koach verstärkte seine Sehkraft auf eine Weise, die ihn immer wieder erstaunte. Er sah nicht nur besser, sondern er konnte mit seinem Blick feinste Strukturen im näheren Umkreis ertasten.
Aber wo war der Schatten?
Er hatte sich wohl zu sehr auf den Stab konzentriert und dabei vergessen auf die davoneilende Gestalt zu achten. Einen Moment vergaß er die Verbindung mit dem Koach und es herrschte wieder vollkommene Finsternis. Doch da bemerkte er wieder etwas. Es war nur ein Schwimmen von Schatten, nicht mehr. Warum hatte Haschevet ihm das nicht gezeigt?
Während Yonathan Yomis Silhouette folgte, jagte er immer häufiger an Säulen oder Statuen vorbei, wie er sie schon vorher gesehen hatte. Diese steinernen Figuren schienen ihn zu beobachten. Hin und wieder entdeckte er auch andere Formen, die kleiner, aber ebenso unbeweglich waren und an Tiere erinnerten. Er schüttelte den Kopf. Was für ein Blödsinn!, sagte er sich. Meine Phantasie geht mit mir durch. Aber merkwürdig war es schon. Jetzt überquerte er einen Platz, der so voll gestopft war mit diesen merkwürdigen Säulen, dass nicht einmal ein Pferdegespann die Gassen passieren konnte.
Tiefer und tiefer geriet er in das Netz von schmalen Gassen und breiten Straßen hinein. Langsam glaubte er nicht mehr daran, dass es wirklich sein Freund war, dem er da hinterherlief. Hier waren dunkle Mächte am Werk. Er musste sofort umkehren.
Er drehte sich um, wollte fortlaufen in die Richtung, aus der er gekommen war – und stand vor einer Mauer. Oder war er doch aus einer anderen Gasse gekommen?
Notgedrungen folgte er wieder jener Gestalt und sie führte ihn weiter in das Herz der verfluchten Stadt. Der Weg stieg unmerklich an. Noch einmal versuchte Yonathan sich davonzustehlen, blieb zurück, machte kehrt und stand vor einer Mauer. Es gab keinen
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