Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
versunken. Als er das Holz Haschevets umfasste, schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. »Halt!«, schrie er und konnte gerade noch verhindern, dass seine Freunde den Anker über Bord warfen.
»Was ist los?«, fragte Yomi, dem das schwere Ding beinahe auf die Füße gefallen wäre.
»Ich glaube, dass dieses Traumfeld lebt. Es kann denken und fühlen – und mag es wahrscheinlich überhaupt nicht, wenn man eiserne Anker in seine Haut treibt, die…«
»Ein… was?«, unterbrach Yomi. Der Schimmer des Traumfeldes spiegelte sich grün in seinem bleichen Gesicht.
Auch Gimbar fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Sprachlos stand er neben dem Seemann und rieb sich nervös die Nase.
»Ja«, erklärte Yonathan gelassen. »Es scheint so eine Art Wal zu sein, nur eben viel größer.«
»Aber Wale tauchen«, gab Gimbar zu bedenken. »Bestimmt viel besser als wir.«
»Sicher. Aber ich glaube, dieses Traumfeld wird nicht tauchen.«
»Ich wünschte, ich hätte deine Zuversicht. Wie kannst du dir nur so sicher sein?«
»Keine Ahnung. Es ist nur so ein Gefühl. Schon als du dieses Traumfeld entdecktest, spürte ich es. Es ist uns wohlgesinnt. Es freut sich über unsere Ankunft.«
Yomi und Gimbar tauschten Blicke, aus denen Sorge um Yonathans geistigen Zustand sprach. »Wie ist das, wenn er solche… Gefühle hat?«, wollte Gimbar wissen. »Kommt das häufiger vor? Und steckt dann auch was dahinter?«
Yomi musste zugeben, dass Yonathan tatsächlich bisweilen über schwer erklärliche Wahrnehmungen verfügte.
»Also gut«, beschloss Gimbar, »dann lasst uns an Land gehen
– sofern man in diesem Fall von Land sprechen kann.«
Das war nicht gerade leicht. Yonathan, Gimbar und Yomi mussten auf einem unberechenbaren, weichen und schlüpfrigen Untergrund Halt finden und zugleich das Segelschiff weiter auf das Traumfeld ziehen. Obwohl sie die Mücke bereits eine beachtliche Strecke geschleppt hatten, reichte ihnen das kalte Wasser noch immer bis zur Brust.
»Das kann doch nicht sein«, meinte Yomi schließlich vor Kälte zitternd und mit blauen Lippen. »Ich habe den Eindruck, das hier ist so eine Art wanderndes Loch.«
Yonathan und Gimbar sahen es jetzt auch. Was sie anfangs für die Mündung eines Wasserlaufs gehalten hatten, war eine längliche Bodenfalte, die sie mitsamt ihrem Schiff dahin begleitete, wohin sie wateten. Es war, als zöge man mit dem Finger eine kleine Wasserlache über eine elastische Plane.
»Mir reicht’s«, beschloss Yomi und kletterte bibbernd in die Mücke zurück.
»Ich muss zugeben, der Lange hat Recht«, stellte auch Gimbar fest. »Es hat keinen Sinn noch länger Wasser zu treten. Lasst uns beraten, wie es weitergeht.«
Die drei Gefährten zurrten die wasserdichte Plane fest, die sie vom Bug der Mücke bis zum Mast gespannt hatten und die ein einigermaßen regensicheres Zelt bildete.
Mehr liegend als hockend zogen Yonathan, Yomi und Gimbar ihre nassen Kleider aus und wickelten sich in klamme Decken ein. Schon bald hatte die Erschöpfung den Sieg über die Furcht errungen; Yomi und Gimbar fielen in tiefen Schlaf. Draußen zerrte der Sturm an der Zeltplane und mühte sich die Mücke von ihrem Platz zu bewegen. Doch das kleine Segelschiff verharrte unbeweglich an seinem Platz – als hielte es eine große Faust.
Yonathan konnte keine Ruhe finden. Haschevet hatte ihm verraten, dass dieses Traumfeld mehr als eine Insel war. Doch warum hatte er dieses Gefühl der Vertrautheit verspürt, diese Wiedersehensfreude?
Unwillkürlich suchten seine Finger in der Dunkelheit nach Goels Beutel, diesem wundersamen Proviantsäckchen, das in Zeiten der Not nie versiegte. Seit er das Tor im Süden durchschritten hatte, bewahrte er in diesem Beutel noch etwas anderes auf: den Keim. Er war das Abschiedsgeschenk von Din-Mikkith gewesen, dem Behmisch, der ihn und Yomi sicher durch das Verborgene Land geführt hatte. Diese Keime waren alles, was die grünhäutigen Behmische brauchten, um ihr Leben und – was das Besondere war! – all ihre Erinnerungen an ihre Nachkommen weiterzugeben. Zwei solcher Keime mussten miteinander verschmelzen, um neues Behmischleben zu erwecken. Din-Mikkith hatte erklärt, dass er der Letzte der Behmische sei und deshalb jede Hoffnung, für seinen Keim das passende Gegenstück zu finden, auf immer verloren wäre. Yonathan hatte die in dem Keim schlummernden Erinnerungen vieler Behmisch-Generationen »lesen« können, woraufhin Din-Mikkith ihm dieses kostbare Kleinod zum Abschied
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