Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Die »Insel« hieß die Behmische willkommen und lud sie ein mit ihr das gefährliche Eiland zu verlassen.
Keine Frage, dass das Volk sich nicht zweimal bitten ließ. Abermals gerieten die Fluten in Bewegung – diesmal jedoch der vielen grünen Leiber wegen, die dem gefürchteten Strand für immer den Rücken kehrten, um mit dem neuen Freund die Weite des Ozeans zu durchmessen, auf der Suche nach einer neuen Heimat.
Rakk-Semilath, »Pfad über das Meer«, nannten die Behmische ihre lebende Insel. Die Menschen nannten sie Traumfelder, weil sie, grünlich schimmernd, scheinbar nur in der Nacht erschienen, wie ein unwirklicher Traum, und weil diejenigen, die sie betraten, angeblich auf ewig verschwanden, so als hätten sie immer nur in einem Traum existiert.
Wie die Luftblasen eines Perlentauchers stiegen Yonathans Gedanken wieder an die Oberfläche der Gegenwart empor. Rakk-Semilath? Jetzt erinnerte er sich wieder! Seltsam, es waren höchstens sechs Wochen vergangen, seit Din-Mikkith ihm und Yomi vom Untergang des Behmisch-Volkes erzählt hatte. Was hatte er doch gleich von dem Schlupfwinkel im Drachengebirge erzählt, in dem sein Volk lange Jahre abgeschirmt von der übrigen Welt lebte? »Vor vielen Generationen hatten sich unsere Vorfahren hier niedergelassen, nachdem sie auf Rakk-Semilath das große Meer überquert hatten.« Richtig! Jetzt wusste er, wovon Din-Mikkith sprach. Von einem… nein, von diesem Traumfeld hier.
»Bist du böse mit mir?«
Yonathan erschrak. Die Stimme erschien so unerwartet in seinen Gedanken, dass er heftig zusammenzuckte. Gurgi kullerte von seiner Brust, piepste empört und suchte sich einen anderen Schlafplatz.
»Ich hatte mich so gefreut, dass ihr wieder da seid!«
Yonathan blickte in der Dunkelheit erst da hin, wo sich Haschevets Knauf befinden musste und dann auf den Behmisch-Keim in seiner Hand. Keiner der beiden Gegenstände wollte ihm eine Erklärung für diese seltsame
Stimme geben.
»Du musst böse mit mir sein!«
Eigentlich war es keine Stimme. Es war vielmehr das, was einem gehörten Wort folgt: das Verstehen. Yonathan begann zu ahnen, was da vor sich ging. Es musste das Traumfeld sein, das ihn rief.
»Wenn du nicht mit mir sprechen willst, dann kann ich ja wieder untertauchen…«
»Halt!«, schrie Yonathans Geist. Der gewaltige Körper des Traumfeldes würde zweifellos alles mit sich in die Tiefe reißen. Schlagartig hatte Yonathan seine Lethargie abgeschüttelt. »Warte einen Augenblick! Verzeih mir, ich war… in Gedanken.«
»Oh! Dann habe ich dich gestört. Ich kann ja später noch mal wiederkommen…«
»Nein, nein. Erzähl schon. Ich bin jetzt ganz Ohr.«
»Hi, hi«, kicherten die Gedanken. »Was bist du? Ein Ohr?«
Yonathan bemühte sich Ruhe zu bewahren. Dies schien eine schwierige Unterhaltung zu werden. Aber er lernte dazu. Dieses Gespräch fand jenseits der Worte statt. Ja, in diesem Moment offenbarte sich ihm das Wunder der Sprache. War sie doch eigentlich nur eine Ansammlung von Lauten, von klingenden Symbolen. Und jede Unterhaltung war im Grunde ein Handel mit Worten, gegründet auf Verstehen. Und das Verstehen machte die Sprache zu einem der herrlichsten Geschenke Yehwohs.
Was hier auf der Mücke geschah, übersprang die Symbole und ging gleich zu jenem Verstehen über, dem Ziel jedes ehrlich gesprochenen Wortes. War das das Sprechen mit den Lebenden Dingen, wie die Behmische es nannten? Oder war es das Gefühl, wie es Navran nannte? Wie auch immer, es war kein Gedankenlesen. Das Gegenüber musste das Spielchen schon mitspielen. Aber dann funktionierte es!
»Eigentlich hatte ich gedacht, du würdest mir irgendetwas erzählen?« Das Traumfeld schmollte. »Es ist schon so lange her, dass du mit deinen Freunden auf meinem Rücken geritten bist. Ich dachte, ihr würdet gar nicht mehr kommen.«
»Ich muss dir etwas verraten, ein Geheimnis!«, begann Yonathan zaghaft. »Aber du darfst nicht böse sein.«
»Ich bin nicht böse. Was willst du mir denn verraten?«
»Und du wirst auch bestimmt nicht tauchen?«
»Ich kann tauchen, wann ich will!«
»Dann verrate ich dir auch das Geheimnis nicht.«
»Also gut. Aber sag endlich, was du mir verraten wolltest.«
»Meine Freunde und ich, wir sind keine Behmische. Wir waren es nicht, die vor so langer Zeit auf deinem Rücken, in diesen Teil Neschans ritten. Ehrlich gesagt, wir sind Menschen.«
Ein Beben ging durch das Traumfeld. Es sackte ein Stück ab, sodass die
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