Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
schenkte.
Der Keim in Yonathans Hand fühlte sich warm an, beinahe so, als wäre er lebendig. Aber dieses Gefühl rührte wohl von seinem eigenen heftigen Puls her. In der Linken hielt er Haschevet. Auf seiner Brust schlummerte Gurgi. Yonathan schloss die Augen.
Anfangs sah er nichts. Doch langsam begann ein schwachgelbes Licht die Finsternis zu durchdringen und er nahm wieder dieses Glücksgefühl wahr, das nur von dem Traumfeld stammen konnte. Es war so, als würden sich zwei gute Freunde nach langer Zeit der Trennung wieder treffen. Yonathan begriff, dass weder er noch der Stab dieses Gefühl ausgelöst hatten. Der Willkommensgruß des Traumfeldes galt ohne Zweifel dem Keim Din-Mikkiths!
Bilder tanzten vor Yonathans Augen, wie beim ersten Mal, als er den Keim »gelesen« hatte. So schnell war der Wechsel dieser vorbeihuschenden Lebenserinnerungen längst vergessener Behmisch-Generationen, dass er keine Einzelheiten erkennen konnte. Yonathan stellte sich vor, die Kraft des Koach würde von der linken zur rechten Hand fließen und die Bilder ordnen, um ihm das eine zu zeigen, nach dem er suchte.
Endlich beruhigte sich das hektische Flimmern und einzelne Bilder lösten sich aus dem Fluss. Yonathan kniff die Augen fester zusammen und von einem Moment zum nächsten sah er die Szene klar vor sich; mehr als das – er befand sich mittendrin: mittendrin in einer Menge von Behmischen. In ihrer zischenden, raschelnden Sprache riefen sie aufgeregt durcheinander. Er blickte auf das Meer – einen tiefblauen, ruhig daliegenden Ozean. Als er sich umdrehte, sah er, dass er sich an einem Sandstrand befand. Die Sonne stand hoch am Himmel und brannte unbarmherzig hernieder. Die Luft über dem weißen Sand flimmerte in der Hitze. Er fühlte, dass dies keines der bekannten Länder Neschans war. Es musste ein fremder Kontinent sein oder eine ferne, unbekannte Insel. Den Strand schloss eine grüne Mauer aus fremdartigen Bäumen ab. Selbst in den tropischen Regenwäldern des Verborgenen Landes hatte Yonathan solche Pflanzen nie gesehen. Noch weiter dahinter erhob sich bedrohlich ein gewaltiger, dunkler Berg. Der teilweise von Wolken verhüllte Gipfel war stumpf und rauchte und ein Strom aus karminroter Lava wälzte sich an seinen Hängen hinab. Ein Vulkan!
Erst nach einer Weile begriff Yonathan, was so beklemmend an dem Anblick des Berges war – nicht der sichtbare, zerstörerische Strom aus flüssigem Gestein, sondern vielmehr das, was daneben aus dem Innern der verwundeten Erde quoll: eisige Kälte! Von den Flanken des Berges breitete sich unaufhaltsam ein fahler Schleier aus Reif und Eis über die Insel aus, und da, wo Lava und Eis sich berührten, stieg karminrot schimmernd eine Dampfsäule in den Himmel empor. Bald würde die Kälte den hitzeflirrenden Strand erreicht haben. Und damit auch die Behmische. Yonathan konnte sich noch daran erinnern, wie Din-Mikkith in den eisigen Höhen vor dem Tor zum Süden gelitten hatte. Das ganze Volk würden sterben müssen!
Yonathan verstand nur bruchstückhaft, was die Behmische riefen. Aber er spürte, dass Furcht und Schrecken sie beherrschte. Sie wollten vor der erstarrenden grünen Wand des Dschungels fliehen. Aber das Meer – so still und friedlich es auch dalag – war eine unüberwindbare Barriere. Um zu überleben, mussten die Behmische die Insel verlassen. Das ganze Volk musste auswandern. Aber wie? Und wohin?
Yonathan spürte, dass die Furcht der grünen Wesen immer größer wurde. Waren sie anfangs noch hilflos durcheinander gerannt, erstarrten sie nun in Todesangst. Manche standen bis zum Hals im Wasser, andere hockten zusammengekauert am nassen Strand, die Arme um den Leib geschlungen, und wippten teilnahmslos hin und her. Hier und da war ein helles, pfeifendes Wimmern zu hören.
Da geschah etwas Unerwartetes! Das Meer nahe dem Strand geriet in Bewegung. Es brodelte, schien zu kochen. Vor den gebannten Blicken des verzweifelten Volkes tauchte… eine Insel auf. Das grünliche, im Sonnenlicht glitzernde Eiland war nicht allzu groß, aber es war beweglich! Es konnte schwimmen und es dauerte nicht lange, bis die ersten Behmische ihren Schreck überwanden und hinüberschwammen. Mit der den Behmischen eigenen Fähigkeit die Lebenden Dinge zu »befragen«, stellte man schnell fest, dass die Insel mehr war als eine schwimmfähige Ansammlung von Tang, Muscheln und Treibholz. Das riesige Etwas lebte! Es konnte sogar denken! Seine schlichten Gedanken waren kindlich, ebenso seine
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